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In diese Panzer hinein setzte sich Kaljonin mit seinem Zug. Seelenruhig beobachtete er den regen Verkehr auf den beiden Straßen… die nach Pitomnik war der Leidensweg der Verwundeten. Tausende stolperten ihn entlang, fielen in den Schnee, starben, wurden von den Entgegenkommenden weggestoßen, niedergetrampelt, pflasterten mit ihren Leibern die Straße, ein Knüppeldamm aus gefrorenen deutschen Körpern, über den die anderen hinwegkrochen wie Riesenmaden… nach Pitomnik, zum Flugplatz, zur Hoffnung, doch noch einen Platz in einer Ju zu bekommen, hinauszufliegen aus der Hölle, die nicht heiß war, sondern bei 40 Grad unter Null zu Eis erstarrt.

Nach Stalingrad hinein rollte von Karpowskaja der magere Nachschub. Autokolonnen mit Munition, Sprit und Verpflegung. Truppen, die rund herum im Kessel verlegt wurden und an den Fronten Karussell fuhren, vor allem Pioniere und die Sondereinheiten, die man aus den arbeitslos gewordenen Eisenbahnern, Festungsbataillonen, Bautrupps, Werkstätten, Posteinheiten, Trossen aufgeriebener Regimenter und im Kessel geheilter Kranker gebildet hatte. Sie bekamen neue Namen, taktische Bezeichnungen, meist nach dem Namen ihres Kommandeurs, wie >Gruppe Wille< oder Kampfgruppe Degenhardt<, und wurden hineingeworfen in den aufgerissenen Rachen des Molochs Stalingrad.

Drei Tage verbrachte Iwan Iwanowitsch Kaljonin mit seinem Zug in den beiden deutschen Panzern. In diesen drei Tagen stockte der Nachschub, und die Munitions- und Essenträger am Stadtrand warteten vergeblich. Um so mehr türmte sich das Material vor den beiden Panzern. Lastwagen brannten aus, im plötzlichen Feuer von allen Seiten wurden zwei Einheiten vernichtet, ehe sie überhaupt Stalingrad erreicht hatten… Die Überraschung war so vollkommen, daß die Vernichtung schneller war als das Bewußtsein, vernichtet zu werden.

Nach drei Tagen zog Kaljonin wieder zurück nach Osten in die Stadt. Als er sich bei seinem neuen Kommandeur meldete, bekam er ein Lob und einen Tag Urlaub, um Vera zu besuchen. Er traf sie nicht an. Nur die Pannarewskaja war wieder da, stand am Operationstisch und amputierte. Chefchirurg Sukow schlief auf einer Pritsche an der Wand, umgeben von stöhnenden Verwundeten. Er schlief wie ein Bär. Seit neunundvierzig Stunden war er auf den Beinen gewesen und hatte operiert, dann war plötzlich Olga Pannarewskaja wieder da, nahm ihm die Instrumente aus der Hand und operierte stumm weiter. Sukow war umgesunken wie ein gefällter Baum. Schon im Hinfallen auf die Pritsche schlief er.

«Vera ist in Gefangenschaft gekommen«, sagte die Ärztin und hob die Schultern.»Man hat gesehen, wie zwei Deutsche sie aus den Trümmern zogen. Sie muß verwundet gewesen sein…«

Kaljonin stand wie erstarrt. Wenn man mit einem Hammer auf das Hirn haut, ist es nicht so schlimm wie dieser Schmerz, der Kaljonin durchraste.

«Danke, Genossin Kapitän, danke«, stotterte er völlig hilflos. Dann stolperte er hinaus an die frische Luft, setzte sich auf einen Mauerrest und sah lange hinüber zu den deutschen Stellungen.

Was bin ich? dachte er. Bin ich ein Mensch, oder bin ich ein Held, oder bin ich ein Kommunist, oder bin ich ein Retter des Vaterlandes? So dumm kann man fragen, wenn einem das Herz schmerzt und die Brust zu klein wird, weil das Herz sich weitet, um schreien zu können. Iwan Iwanowitsch bekannte sich dazu, ein Mensch zu sein. Weiter nichts, nur ein Mensch. Aber ein Mensch, dessen Leben seiner Frau Vera galt und der sich nicht damit abfand, daß sie jetzt dort drüben irgendwo in einem Keller hockte und mißhandelt wurde. In dieser Nacht verschwand der Mladschij Sergeant Kaljonin in der Ruinenwüste von Stalingrad. Niemand hat ihn wiedergesehen… wenigstens keiner der Rotarmisten. In der Verlustliste des nächsten Tages wurde er als vermißt aufgeführt. Das war nichts Neues… so viele galten als vermißt, deren Körper unter den niederstürzenden Mauern plattgequetscht wurden. Nur für Olga Pannarewskaja war er nicht gestorben… aber sie schwieg.

Das Lazarett unter dem Kino, die feuchten Kellergewölbe, in denen das Tropfwasser in den Rissen gefror, war mit über achthundert Verwundeten vollgestopft, als Dr. Portner zurückkam. Eine Woge von Gestank aus Eiter, faulenden Gliedmaßen, Kot, Schweiß, Blut, Jodoform und Verwesung schlug ihm entgegen. Es gab keine Gänge mehr, keine Treppe, keine Liegeordnung. Sie lagen übereinander wie Holzklötze, sie pflasterten die Treppe mit schreienden Leibern, mit brandigen Wunden, mit abfaulenden Gliedern, mit Wahnsinn und Beten. Fleckfieber ließ sie toben oder apathisch werden, Geschwüre brachen auf wie Krater, aus den aufgerissenen Bäuchen quollen die Därme, Männer mit halben Gesichtern krochen herum und schrien wie Tiere, die zerrissenen Körper quollen auf wie Wasserleichen.

Zwischen diesem Sterben, zwischen den Fluchenden und Betenden, Weinenden und Tobenden, zwischen Wahnsinn und Ergebenheit saß, stand oder ging Pfarrer Webern und tröstete. Er betete nicht mehr… er konnte es einfach nicht. Ihm fehlten die Worte, dieses Grauen zu überdecken. Selbst Gottes Sprache versagte… er hatte nie daran gedacht, daß Menschen einmal solcherart die für sie geschaffene Welt verlassen könnten. Nun mußte selbst Gott schweigen. Was Pfarrer Webern tat, war ein letzter, fast stummer Dienst. Er drückte die zuckenden, fieberheißen Hände, er schob die Lider über die gebrochenen Augen, er hielt sein kleines Brustkreuz hoch und segnete, er sprach nicht mehr von der ewigen Seligkeit, er hörte zu, wie die Sterbenden nach ihrer Frau, nach ihrer Mutter wimmerten, wie sie nach Briefpapier schrien, um zu schreiben mit Händen, die sie nicht mehr hatten, wie sie sich an ihn klammerten und fragten:»Herr Pfarrer, nicht wahr, ich werde weiterleben…«, und ihre Beine faulten bereits, und die Haut löste sich von den Körpern, und er nickte und sagte:»Ja, mein Sohn, du wirst weiterleben…«Und dann starben sie, die einen noch im letzten Atemzug grell schreiend, die anderen stumm, mit großen, nicht verstehenden Augen.

Dr. Portner kämpfte sich bis zum Operationskeller durch. Er mußte über die Körper gehen, die unter ihm aufbrüllten, die mit Fäusten an seine Beine schlugen, die seine Stiefel umklammerten, die nach ihm bissen wie tollwütige Ratten.

Im Operationskeller war etwas mehr Ordnung. Hier standen drei Unterärzte an den Tischen und verbanden. Operieren hatte keinen Zweck mehr. Wohin mit den abgetrennten Gliedern, wohin mit den Frischoperierten? Warum noch amputieren? Es starb sich mit abgerissener Hand genausogut wie mit einem Stumpf. Auch die Unterschiede waren verwischt… ob Offizier oder Landser, sie alle lagen neben- und übereinander, schreiend und wimmernd, sich aneinanderkrallend, als ertränken sie im eigenen Blut.

Dr. Portner setzte sich erschöpft auf einen Hocker an die Wand. Knösel und Rottmann blieben im Nebenkeller. Der Feldwebel der Feldgendarmerie, gelbblaß, sah sich um. Das hundertfache Sterben ringsum ließ ihn ahnen, wie er selbst enden würde.

«Wenn… wenn ich das gewußt hätte, Kumpel…«, stotterte er. Knösel saß auf seinem organisierten Stoffballen und stierte auf die Sterbenden.

«Was?«fragte er.

«Wie das alles kommt…«

«Det haste doch jewußt.«

«Ich habe gedacht… mein Gott… was soll jetzt werden…«

«Sieh se dir an… So liegste auch bald da…«

Rottmann zitterte wie im Schüttelfrost. Seine Zähne klapperten laut. Er wandte sich ab, er suchte wegzukommen, aber überall lagen die Körper, röchelten Leiber, zuckten Glieder, schrien Münder. Da beugte er sich vor und erbrach sich. Er konnte es nicht mehr anhalten, er spürte, wie sich sein Magen nach oben drehte, und er kotzte, nach vorn gebeugt, über die Körper, die unter ihm lagen. Sie rührten sich nicht, sie atmeten noch, aber ihre Augen waren schon gestorben.