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Ein paar leichter Verwundete starrten Emil Rottmann an wie ein Weltwunder. Der kann noch kotzen, dachten sie. Wer kotzen kann, hat was zu fressen gehabt. Wo gibt es hier noch was zu fressen? Am Bahndamm haben sie die Schienen herausgerissen, die alten Holzbohlen geraspelt und daraus eine Suppe gekocht, mit Schneewasser und einer Kraftbeilage aus Krähen.

Es war der 7. Januar 1943.

Dr. Portner trug in sein Tagebuch ein: Rückkehr in die Kinokeller. Nehme meine Arbeit wieder auf. Verpflegung seit drei Tagen keine. Kaum Verbandmaterial, keine Anästhesiemittel.

Dann stellte er sich wieder an seinen alten Küchentisch und ope-rierte. Am anderen Tisch stand bereits Dr. Körner. Er schnitt ein Bein ab, das so aufgequollen wie eine Ballonwurst war.

«Übermorgen sind wir am Ende«, sagte Dr. Portner laut.»Ich habe die Bestände durchgezählt… dann haben wir nur noch unsere bloßen Hände…«

Pfarrer Webern sah kurz in den Operationskeller. Trotz der Trostlosigkeit strahlte sein in Stalingrad vergreiste? Gesicht.

«Pastor Sanders. ist wieder da«, rief er durch das Stöhnen und Wimmern zu den Ärzten.»Sie haben ihn eben gebracht. Drei Pioniere. Er lebt noch, ja, es geht ihm verhältnismäßig ganz gut. Seine Schulterwunde ist vereitert, aber nicht brandig.«

Dr. Portner zog die Mundwinkel herunter.»Mit zwei Gottesmännern im Keller muß es ja gutgehen«, sagte er sarkastisch.»Vielleicht hilft uns das doppelte Gebet zu dem Wunder, Binden zu bekommen…«

Pfarrer Webern ging in den großen Keller zurück. Er nahm Dr. Portner nichts übel. In Stalingrad war es selbst für einen Priester schwer, mit Gott ins reine zu kommen.

Gegen Abend polterte ein Trupp verdreckter und vereister Landser die mit Toten und Erfrorenen belegte Treppe hinab. Ein Oberleutnant fragte sich durch und platzte in den Operationskeller. Dr. Portner und Dr. Körner hatten gerade eine Pause eingelegt und tranken Tee.

«Wer ist hier der Chef?«fragte der Oberleutnant und sah auf die Ärzte. Es war drückend heiß in dem Keller, Portner und Körner saßen in Hemdsärmeln an der Wand.

«Ich!«Dr. Portner winkte mit der Teetasse.»So schneidig, mein Sohn? Ist der Führer etwa über Stalingrad abgesprungen? Im Altertum war das üblich… da starb der Feldherr an der Spitze seiner Truppen.«

Der Oberleutnant sah verwirrt auf den Arzt. Da er keinen Dienstgrad wußte, vermied er die direkte Anrede.

«Wir bringen Gefangene! Mein Stoßtrupp hat vorhin eine russische Verwundetengruppe gestellt. Es sind ein Arzt, eine Ärztin, ein verwundeter sowjetischer Oberst…«

«Körner, sehen Sie mal nach, was da los ist. Gefangene! Was soll ich hier mit Gefangenen, lieber Mann!«Dr. Portner trank einen Schluck Tee.»Verhungern können sie auch vor der Tür… Kinder, wer macht denn heute noch Gefangene! Laßt sie laufen…«

Dr. Körner ging hinaus. Er stieg wieder über die blutenden, eiternden, faulenden Körper und kämpfte sich bis zur Treppe durch. Dort stand Knösel, und man sah ihm an, daß er fasziniert war.

Am Eingang zum Keller, auf der untersten Treppenstufe, stand eine Frau in der olivgrünen Uniform der sowjetischen Offiziere. Der Lammfellmantel war zerrissen, über den hochgestellten Kragen fielen lange schwarze Haare. Das schmale, leicht tatarische Gesicht mit den mandelförmigen Augen war hochmütig trotz des Mörtelstaubes, der auf ihm klebte wie eine Clownmaske. Die langen, schlanken Beine steckten in hohen Stiefeln. Die Frau blutete aus einem Riß an der linken Schläfe. Knösel, der sein schmutziges Taschentuch hervorgeholt hatte und es gegen den Riß drücken wollte, bekam einen heftigen Schlag auf den Arm.

«Det is ’ne Wucht!«sagte er begeistert.»Junge, det müßte man vernaschen…«

Dr. Körner blieb vor der Frau stehen. Stumm sahen sie sich an, der hemdsärmelige deutsche Arzt und der gefangene sowjetische weibliche Offizier. Sie sahen sich an, als hätten sie aufeinander gewartet, als wäre in diesem Augenblick die Welt vollkommen.

Olga Pannarewskaja senkte als erste den Blick. Das Blut jagte in ihre Schläfen. Was ist das, dachte sie erschrocken. Himmel, was ist das denn?

Sie hob wieder den Kopf… er sah sie noch immer an, und ihr zweiter Blick wurde wehrloser und ergebener.

«Ich bin Ärztin…«, sagte sie in hartem Deutsch.

Dr. Körner reichte ihr die Hand.»Bitte, kommen Sie mit, Kollegin…«

Als ihre Hände sich berührten, war es für sie wie ein Schlag. Sie zwang sich, an Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski zu denken, aber sein Bild war nicht mehr da. Wie furchtbar, wie schrecklich, dachte sie. Wie ist es möglich, daß ein einziger Blick einen Menschen aufreißt?

Hand in Hand stiegen sie über die stöhnenden Leiber.

Kapitel 11

Im Operationskeller unterbrach Dr. Portner eine breite Rückennaht und sah die beiden Eintretenden verdutzt an. Der Verwundete vor ihm auf dem blutigen Küchentisch brüllte mit unmenschlichen Lauten, aber er wußte es nicht, er brüllte auch nicht aus Schmerz, er schrie im Delirium, im Fieberwahn, der seinen Körper ausglühte.

«Was ist denn das?«fragte Dr. Portner und starrte die Pannarewskaja an. Die Ärztin erwiderte den Blick mit Stolz und hoch erhobenem Kopf.

«Ich bin Olga Pannarewskaja. Seit acht Tagen Kapitänärztin der siegreichen Roten Armee. «Ihre harte Stimme übertönte das rhythmische Brüllen des Verwundeten. Stabsarzt Dr. Portner legte seinen Nadelhalter hin.

«Sie erwarten doch nicht, daß ich Ihnen die Hand küsse, gnädige Frau?«Er machte mit beiden Händen eine umfassende Bewegung.»Sie sehen, im Augenblick werde ich abgehalten, galant zu sein. Die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens, meine Gnädigste. Aufgerissene Bäuche, halbe Köpfe, erfrorene Gliedmaßen, Fleckfieber, Wahnsinn, Wundbrand… Sie müssen mich entschuldigen…«

Die Pannarewskaja drückte das Kinn an ihr Uniformhemd, das sie unter dem olivgrünen Rock trug. Sie verstand den blutigen Sarkasmus Dr. Portners… sie kam aus einer Hölle und war in eine neue hineingeraten. Hinter ihr entstand Bewegung… zwei Soldaten führten Chefchirurg Dr. Sukow in den Keller, in einer Zeltplane hinter ihm schaukelte ein blutiger Körper. Zwei sowjetische Krankenträger schleppten ihn über die auf dem Kellerboden liegenden deutschen Leiber. Der schneidige deutsche Oberleutnant war schon wieder hinausgelaufen in die Trümmerwüste der Stadt… die eisige, mit Kalkstaub durchsetzte Luft in den Ruinen war ihm lieber als die stinkende Wolke aus Eiter, Blut und Kot, die fettig in den Kellern des Kinos lag.

«Noch einer?«fragte Dr. Portner.

«Chefchirurg Dr. Sukow…«, stellte die Pannarewskaja vor. Ein böser Blick des sowjetischen Arztes traf sie. Er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. Von seinem Mantel troff das geschmolzene Eis auf den Boden. Dr. Portner trat auf ihn zu. Ganz nah standen sie sich gegenüber und sahen sich an.

«Sie sprechen auch deutsch?«fragte Dr. Portner.

Dr. Sukow schwieg.

«Sie verstehen mich also nicht?«

Dr. Sukow schwieg. «Er verzog sogar das Gesicht, als ekele er sich, von einem Deutschen angeredet zu werden. Dr. Portner hob die Schultern und wandte sich ab. Er sah auf den blutigen Körper in der russischen Zeltplane. Die beiden sowjetischen Krankenträger standen daneben, als hielten sie Ehrenwache.

«Wer ist denn das?«

«Oberst Juri Trifomewitsch Sabotkin«, antwortete Olga Pannarewskaja.

Der deutsche Verwundete war vom Tisch genommen worden, die beiden sowjetischen Krankenträger, Dr. Körner und Olga Pannarewskaja hoben den Oberst auf den Tisch. Dr. Körner und Olga Pannarewskaja verständigten sich durch einen Blick. Es war hoffnungslos. Auch Dr. Portner sah es und stützte die Hände auf den Tisch.