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Anders Andreij Wassilijewitsch Sukow. Er legte die Hand fast zärtlich auf den Bauch des Obersten und warf dann den Kopf zu Olga herum.

«Was ist denn?«schrie er. Entsetzt starrte ihn die Pannarewskaja an.

«Du bist verrückt, Andreij«, sagte sie leise.

«Skalpell…«

Dieses Wort verstand auch Dr. Portner. Er beugte sich zu Dr. Sukow vor.

«Das ist doch Zeitverschwendung…«

«Oberst Sabotkin ist ein Held der Nation!«sagte Sukow hart.

«Himmel, Arsch und Zwirn… hier in den Kellern liegen über zweitausend Helden der Nation!«schrie Dr. Portner.»Wollen Sie hier eine friedensmäßige Bauchoperation vornehmen?!«

«Ja.«

«In aller Ruhe, was?!«

«Ja.«

«Runter mit dem Kerl vom Tisch!«schrie Dr. Portner.»Jedes Theater ist so lange gut, wie es logisch ist!«

Dr. Sukow winkte einem der Träger. Er nahm ihm eine Tasche ab, die dieser um den Leib geschnallt trug, und öffnete sie. Sie war gefüllt mit Ampullen aller Art, ein paar waren zerbrochen, es schwappte in der wasserdichten Ledertasche. Dr. Portner starrte auf die gläsernen Phiolen.

«Was soll das?«

Dr. Sukow machte eine darbietende Handbewegung.»Ich tausche, Kollege. Oberst Sabotkin gegen Tasche voll Medikamente. Alles Anästhesiemittel…«Er lächelte mokant.»Sie haben keine Anästhesiemittel mehr?«

«Nein…«

«Bittää… gegen Oberst…«

«Ich könnte Ihnen die Tasche ja einfach abnehmen. Sie sind mein Gefangener, Dr. Sukow.«

«Ehe Sie zugreifen, ich sie an die Wand geworfen habe. Es wäre Dummheit, Kollege…«

Dr. Portner sah noch einmal auf die Ampullen. Anästhesiemittel, dachte er. Mein Gott, das reicht für eine Woche, wenn man sparsam ist. Und die Russen schleppen das mit sich herum, als seien es Probefläschchen von Wodka…

Er drehte sich um, zu dem Küchentisch. Dort hatten Olga Pannarewskaja und Dr. Körner bereits den Bauch des Obersten Sabotkin und die Bauchhöhle eröffnet. Sie war angefüllt mit frischem und zu Klumpen geronnenem Blut, eine fast überschwappende Fleischwanne, in der die Därme schwammen. Mit beiden Händen suchte die Pannarewskaja in diesem Blutsee nach der zerschossenen Arterie, während Dr. Körner mangels eines Spreizers mit seinen Händen die Bauchhöhle offenhielt.

Dr. Portner sah Dr. Sukow wieder an.

«Sehen Sie, Kollege«, sagte er ruhig,»auch wir sind schon eine Generation zurück. Während wir reden und verhandeln und uns Angebote machen, handelt die Jugend bereits ohne große Worte! So sollte es sein, Kollege… wir sollten uns schämen…«

Sie traten an den Tisch und lösten Dr. Körner und die Pannarewskaja ab. Dr. Sukow suchte weiter nach der Blutquelle… er tastete blind in der Bauchhöhle herum, bis er glaubte, die zerrissene Ader gefunden zu haben. Mit Daumen und Zeigefinger kniff er sie zu und hob sein schweißüberströmtes Gesicht zu Dr. Portner.

«Isch habbenn…«Er keuchte und biß die Zähne zusammen. Er lag halb über dem offenen Leib, aber er konnte sich nirgends aufstützen, weil er beide Hände in der Bauchhöhle hatte. So schwebte er fast über dem Körper, eine Haltung, die ihn von den Hüften an zittern ließ und ihm das Gefühl ins Hirn jagte, er müsse in der Mitte seines Rückgrats zerbrechen.

Dr. Portner riß eine Lage Zellstoff aus der Hand Körners und versuchte, mit ihr den Blutsee soweit aufzusaugen, daß man einen Überblick hatte. Es gelang nicht, es war zuviel. Aus einem Seidenfaden machte er eine Schlinge, tastete mit seinen Fingern den Arm Sukows entlang und fühlte das aufgerissene Arterienstück, das die Finger Sukows abdrückten. Er schob die Schlinge darum und zog sie zu. Im gleichen Augenblick ließ Sukow los und richtete sich stöhnend auf. Er preßte beide Fäuste gegen sein Rückgrat und bog sich keuchend zurück, holte ein paarmal tief Atem und lehnte sich an die Wand, weil er schwindlig wurde und sich der Keller vor seinen Augen drehte.

Am Küchentisch standen sich mit bluttropfenden Händen Dr. Körner und die Pannarewskaja gegenüber. Dr. Portner legte eine richtige Ligatur um die zerschossene Arterie. Es könnte noch rechtzeitig sein, dachte er. Wenn dieser Oberst Sabotkin ein starkes Herz hat, kann er überleben… aber nicht hier, nicht in diesen Kellern, in denen die Menschen verwesen, bevor sie gestorben sind. So ist es eigentlich sinnlos, was wir tun… wir kämpfen gegen einen Tod, der nichts anderes zu tun braucht, als zu warten. Die Zeit arbeitet für ihn.

«Die Blutung steht«, sagte Dr. Portner und richtete sich auf. Er bemerkte voll Erstaunen, daß sich Dr. Körner und die Pannarewskaja ansahen und daß in ihren Augen der Krieg und das Grauen verschwunden waren und das Träumen über sie zog wie weiße Federwolken über die Sonne. Auch das noch, dachte er und seufzte. Wir stehen in einem Grab, das man langsam zuschaufelt, und sie fangen an, sich zu lieben. Als ob das Leben sich noch einmal aufbäumt und nach dem Schönsten fleht, das ein Mensch empfinden kann…

Dr. Sukow kam wieder an den Tisch. Er hatte seinen Schwächeanfall überwunden. Er war ärgerlich, daß er ihn nicht hatte überspielen können und die Deutschen gesehen hatten, daß auch ein sowjetischer Major Nerven besaß. Er fühlte Oberst Sabotkin den Puls, legte das Ohr auf die Herzgegend und klappte die Lider hoch.

«In einem Krankenhaus hätte er alle Chancen«, sagte Dr. Portner, als sich Sukow wieder aufrichtete.

«Er wird bald in einem Krankenhaus sein«, sagte Sukow stolz.

«Oder in einem Granattrichter, Nummer sieben der elften Leichenschicht.«

«Nein.«

«Und warum nicht?«

«Weil wir siegen werden.«

«Aber wann?«

«Bald…«

.. Er streckte den Arm aus und stieß die Pannarewskaja an. Die Ärztin schrak zusammen und wischte sich mit der blutigen Hand über das Gesicht. Sie sah schrecklich aus, als sie die Hand sinken ließ.

«Wir sind nicht zum Vergnügen hier, Täubchen«, sagte Andreij Wassilijewitsch Sukow ernst.»Kümmern Sie sich um den Oberst!«

Dann ging er zurück an die Wand und setzte sich. Seine Hände wischte er an der Stiefelhose ab.

Es kam selten vor, daß der Gefreite Knösel keine Worte mehr fand. Ein so bemerkenswertes Ereignis trat ein, als er den Packsack entrollte, den er aus der Luftwaffenbaracke von Gumrak mitgenommen hatte.

Es war eine stille Stunde in der Stadt. Entweder hatte man keine Munition mehr, oder die Rohre mußten sich etwas abkühlen. Die Artillerie schwieg, das Bellen der Paks schlief ein, selbst das Rumpeln der Minen verstummte. Es war der 8. Januar 1943, vormittags 10 Uhr. Ein Datum wie jedes andere für Knösel, in der Geschichte der 6. Armee aber ein Tag und eine Stunde, die über ihr Schicksal entscheiden und die später in aller Klarheit das Verbrechen bloßlegen sollte, dem 300 000 deutsche Soldaten zum Opfer gefallen waren. Ein Verbrechen, wie es bisher in der Kriegsgeschichte einmalig war.

An allen Fronten rund um den Kessel machte der Tod eine Pause. Ganz schlief das Sterben nicht ein… Stoßtrupps und Panzerspitzen durchkämmten das Gelände, und in Gumrak, Pitomnik, Stalingrazkij und Gorodischtsche, in den Kellern und Erdlöchern, Granattrichtern und Bunkern der Stadt Stalingrad starben sie weiter, die Verwundeten, die keiner mehr ausfliegen konnte, weil die Luftwaffe keine Maschinen und die Flugplätze im Kessel Stalingrad keine Vorwärmgeräte hatten, um die bei 40 Grad Frost vereisenden Motoren und Leitwerke aufzutauen. Und es starben die, die im letzten Aufbäumen gegen ihr Schicksal sich auf den Weg machten nach Pitomnik, von dem die mystische Hoffnung ausging, daß vielleicht doch ein Flugzeug da war, ein winziges Eckchen im Laderaum einer Ju 52, in das sich der Schütze Meier III oder der Unteroffizier Weber oder der Leutnant Vogelsang hineindrücken konnte, um weinend vor Glück zu hören, wie die Motoren liefen, wie sich der Leib des blechernen Vogels abhob, wie er schwebte, wie er schaukelte, wie er flog… in die Heimat, in das Leben, in den Himmel…