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Das war ein Magnet, ein solcher Gedanke. Und Tausende trieb es nach Pitomnik, zu Fuß, auf Schlitten, kriechend, getragen, humpelnd, auf Stümpfen, auf Brettern durch Eis und Schnee rutschend, dunkle, mit Eis überkrustete, unförmige, stöhnende, jammernde, betende, fluchende, im Wahn singende, von den anderen, schnelleren niedergetretene und im Schnee erstarrende Insekten, steife Knüppel aus Menschenleibern, die die Straße nach Pitomnik pflasterten und über die hinweg der Nachschub rollte, bis es keinen Nachschub mehr gab, sondern nur noch wankende Gespenster, in Gruppen, geballt oder allein, einzeln in ihrer Sehnsucht nach Leben, mit nur einem Ziel… Pitomnik… das Flugfeld… das letzte Fenster, durch das Gott in die Hölle blickte…

An diesem 8. Januar 1943 aber war es verhältnismäßig still. Knösel benutzte die Stille, um seinen Gepäcksack aufzuschnüren und im Hof eines Hauses auszurollen. Sein Mitbringsel aus Gumrak erwies sich als ein Markierungstuch der Luftwaffe, eine viereckige Leinwand mit einem großen weißen Kreuz darauf. Diese Markierungstücher lagen bereit, um an besonders unzugänglichen Stellen, vor allem bei eingeschlossenen Gruppen, den Versorgungsmaschinen Zeichen zu geben, in diesem Quadrat die Verpflegungsund Munitionsbomben abzuwerfen. Der Befehl, diese Markierungstücher an die kämpfende Truppe auszugeben, kam zu spät. Die Flugzeuge waren froh, überhaupt noch Pitomnik oder Gumrak zu erreichen… an einen Anflug auf Stalingrad-Stadt und eine Versorgung der in den Trümmern hausenden Regimenter war überhaupt nicht zu denken. Nachschub in die Stadt war nur noch auf dem Landweg möglich… und dort fehlten die Fahrzeuge und der Sprit. Und die Pferde. Sie wurden gegessen, sie waren die einzige Nahrung, die man noch kontingentieren konnte… zwölftausend Pferde für dreihunderttausend Menschen…

«Det is ’ne Scheiße!«sagte Knösel endlich, nachdem das Wunder seiner Sprachlosigkeit geschehen war. Aber dann beruhigte er sich. Auch Leinentücher wärmen, wenn man sie faltet, und aus

Leinentüchern kann man Binden reißen. Vor allem aber sagte sich Knösel nach der ersten Verblüffung, daß man ein Markierungstuch einmal ausprobieren sollte. Mehr als Feuer konnte nicht vom Himmel fallen, und das war nichts Neues mehr. Also rollte er sein Leinentuch mit dem großen weißen Kreuz wieder zusammen und ging auf die Suche nach einem Platz, wo man es ausbreiten und wo ein himmlischer Segen auch landen konnte. Zu diesem Zweck nahm er den Feldwebel Rottmann mit.

«Los, du Riesenschwein!«sagte Knösel zu ihm und stieß ihn die Kellertreppe hinauf.»Wenn du glaubst, du könntest hier nur ’rumsitzen und Wachmann spielen, dann haste dir in ’n eigenen Stiefel gepißt! Los, mach schon! Und wennste dreimal Feldwebel bist… hier biste nur ’n Klumpen Fleisch, das Jlück hatte, nich jespickt zu werden…«

Emil Rottmann dachte gar nicht an Widerstand. Seit man ihn als Bewacher von Dr. Körner wieder in die Stadt geschickt hatte, ahnte er, daß sein Leben ebenso abgeschlossen war wie das der anderen Landser. Ihm blieb nur noch die Flucht nach vorn, zu den Sowjets, das Überlaufen, das in den letzten Tagen ein paarmal vorgekommen war und von dem die großen Lautsprecher berichteten, die an allen Stellen der Stadt aus den Ruinen hinüber zu den deutschen Stellungen dröhnten, mit Marschmusik, Walzerklängen und den Berichten der Übergelaufenen. Sie erzählten von guter Verpflegung, warmer Winterkleidung, sauberer Unterkunft, anständiger Behandlung. Sogar ein General sprach einmal. Er lebte jetzt in Moskau und nannte es seine neue Heimat. Rottmann hörte sich das alles an, immer und immer wieder. Ob es stimmt, dachte er. Oder ob sie nur lügen, wie unsere Propaganda es sagt? So zögerte er immer wieder, starrte hinüber zu den Häuserruinen, in denen die Russen saßen, sah die Panzer hin und her rollen, sah ab und zu eine graue Gestalt herumhuschen, dicke Mäntel, Pelzmützen… Sie frieren nicht, dachte er. Sie haben alles, was uns fehlt. Über die Wolga rollen ihre Divisionen, während wir hier verfaulen. Man müßte überlaufen, man müßte…

Im Hof eines Magazins fanden sie einen guten Platz für ihr Markierungstuch. Der Hof war fast trümmerleer… die Häuser waren zur Straße hin umgekippt. Er war wie eine Oase, ein Stück jungfräulicher Haut im pockennarbigen und warzigen Gesicht der Erde.

«Faß an, du Dussel!«rief Knösel und rollte sein Tuch aus.

Emil Rottmann saß auf einer zerborstenen Mauer und starrte zu den Russen. Keine 150 Meter, dachte er und schielte zu Knösel. 150 Meter bis zum Überleben, wenn das stimmt, was sie immer durchs Sprachrohr blasen. Ob Knösel schießen würde, wenn er plötzlich aufsprang, mit dem Taschentuch winkte und hinüberlief zu den befestigten Ruinen?

Rottmann zögerte. Er sah Knösels Maschinenpistole vor dessen Brust pendeln.

«Du trübe Tasse!«schrie Knösel.»Faß an… det Ding muß ganz plan liejen, und Steine tun wir ooch druf, sonst fliecht det Ding weg! Mensch, such wenigstens ’n paar Steine…«

Rottmann griff in die Tasche und umkrallte sein Taschentuch. Aufspringen, ein Schwung über die Mauer, Taschentuch hoch und winken… laufen… winken… laufen… hinein in das Leben… Aber wenn er schoß… wenn Knösel wirklich schoß… Oder wenn die Russen schossen? Aber das konnten sie nicht tun. Man schießt auf keinen, der ein weißes Tuch schwenkt.

Rottmann riß sein Taschentuch heraus und duckte sich zum Sprung. Im gleichen Augenblick sah er, daß er kein weißes, sondern ein blaues Wehrmachtstaschentuch bei sich hatte. Diese Sekunde des Zögerns entschied. Von einer Ruine her bellte es auf. Dreimal ganz kurz… am Kopf vorbei summten die Geschosse wie riesige Hornissen. Rottmann ließ sich hinter die Mauer fallen, Knösel lag bereits in Deckung.

«Soll man das für möglich halten?!«brüllte er und kroch an Rottmann heran.»Du Eckenscheißer, du! Halt dich still!«

Sie lagen ein paar Minuten und warteten. Es geschah nichts weiter, der Hof war nicht einzusehen. Der sibirische Scharfschütze in seinem Stand hatte nur für einen Augenblick den weißgetünchten Helm Rottmanns gesehen und sofort geschossen. Nun lag die merkwürdige Stille wieder über den Trümmern.

Knösel und Rottmann arbeiteten wortlos weiter. Sie breiteten das Tuch aus, beschwerten es an den Kanten mit Steinen und betrachteten dann ihr Werk. Ein großes weißes Kreuz leuchtete auf dunklem Grund.

«Und was soll das?«fragte Rottmann.

«Das ist das Zeichen für ’n Nikolaus!«

«Du glaubst doch nicht, daß hier jemand etwas abwirft?«

«Abwarten.«

«Du lockst höchstens die Artillerie vom Iwan hierher.«

«Man muß alles versuchen. «Knösel setzte sich an die Mauer und stopfte sich seine berühmt-berüchtigte Pfeife. Wenn sie richtig brannte, schnalzte sie wie wiederkäuende Kühe. Auch was Knösel rauchte, machte ihn berühmt als >Mann ohne Lunge und mit ledernem Gaumen<, wie es Dr. Portner nannte… es waren kaum sichtbare Krümel von Machorka, vermischt mit Sägespänen, getrocknetem Gras und — als Superwürze — geschnittenen Disteln. Dr. Portner hatte Knösel befohlen, seinen >raucherischen Perversi-täten< nur im Freien zu frönen, und so saß Knösel viermal täglich auf der Kellertreppe und schmatzte mit seiner Pfeife.

«Man muß alles versuchen«, wiederholte Knösel und machte den ersten Pfeifenzug. Es röchelte in dem hölzernen Kopf.»Hätt-ste jejlaubt, det du einmal in ’nem Granatloch Platz hast, wat? Ick hab imma von ’nem Begräbnis jeträumt mit Fahnen, Musike, Pastoransprache und >Leb wohl, Bruder< vom Kejelklub. Neese, mein Junge. Jetzt sind wir Helden!«

Während der Stille wurde Stalingrad mehrmals überflogen. Meistens waren es sowjetische Aufklärer, die über den deutschen Stellungen kreisten und fotografierten. Am Abend kroch Knösel wieder hinaus zu seinem weißen Kreuz. Eine kleine, metallen blinkende Bombe lag am Rande des Tuches. Es schien eine Verpflegungsbombe aus Aluminium zu sein.

«Hurra!«brüllte Knösel. Er boxte Rottmann in die Seite und tippte an seine Stirn.»Hier muß man et haben, Junge. Nicht verzagen — Knösel fragen… det sollte sich die janze 6. Armee merken!«