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Bis heute weiß man nicht, wer für dieses Dokument deutscher Soldatenüberheblichkeit, das einzig in der Geschichte dasteht, verantwortlich ist.

Ober Stalingrad senkte sich das Leichentuch. Es deckte 230 000 deutsche Männer zu.

Wer kann es ihm verübeln, dem Mladschij Sergeant Iwan Iwano-witsch Kaljonin, daß er trotz seiner vaterländischen Begeisterung zuerst nach Vera, seinem Weibchen, suchte?

In den Kellern rund um den >Tennisschläger<, in denen noch immer Hunderte von Frauen, Kindern und Greisen hockten, hatte er erfahren, daß Veraschka nicht in Gefangenschaft geraten sei, wie es die Pannarewskaja gesagt hatte, sondern daß man sie noch gesehen habe, wie sie Verwundete durch die Ruinen schleifte und Frauen und Kinder durch das Feuer der deutschen MGs zum Wolgaufer in Sicherheit brachte.

«Ich bin keine Heldin«, hatte sie einmal gesagt, als ein Parteikomiteemitglied sie lobte.»Großväterchen haben sie erschossen, den guten, alten Abranow, und Iwan, meinen Mann, haben sie erschossen… was soll ich da noch auf dieser Welt? Aber ich will sterben wie sie… aufrecht und im Einsatz für das Vaterland…«

So hatte sie gesprochen, man erzählte es Kaljonin in den Kellern, und er war stolz und doch traurig zugleich.

«Ein dummes Vögelchen«, sagte er.»Seht, ich lebe doch!«Dann verschwand er wieder und suchte in der Trümmerwüste nach seiner Vera.

Das Leben in den Kellern war grausam. Zweimal mußte Kai-jonin helfen, ein Kind auf diese donnernde und sich in Feuer und Rauch auflösende Welt zu bringen. Da lagen die Gebärenden auf dem kalten, feuchten Kellerboden und schrien, die Nachbarinnen knieten daneben und massierten den Bauch, in einem Kessel kochte Schneewasser… weiter war nichts da. Sie mußten gebären wie die Hunde und Katzen.

«Laßt es nicht leben, ihr Lieben!«schrie eine der Gebärenden und krallte sich in die Schultern Kaljonins, der ihre Schenkel auseinanderdrückte.»Laßt es nicht diese Welt sehen, Genossen! Tötet es, tötet es, bevor es atmet…«

Der Keller bebte unter den Einschlägen der Granaten und Raketen. Es waren sowjetische Geschosse, die die Trümmer umpflügten. Wer wußte denn noch, wo in den Ruinen Freund oder Feind saß, wer kannte sich aus, ob das linke Haus der Straße von der Roten Armee und das rechte von den Deutschen besetzt war? Oft hockten im Erdgeschoß die Rotarmisten und in der ersten Etage deutsche Pioniere, und ein Häuserblock wie etwa eine Konservenfabrik war international… Kalmücken, Kirgisen, Weißrussen und Mongolen saßen hier hinter Steinbarrikaden ebenso wie Kölner, Sachsen, Bayern, Hamburger und Pommern. Wohin sollte man schießen?

Kaljonin zog an dem Kopf des Kindes. Er schwitzte, der Blutgeruch verursachte ihm Übelheit, das Schreien der Gebärenden hämmerte auf sein Hirn.

«Zerreiß es, Genosse!«brüllte sie.»Es wird glücklicher sein, als wenn es lebt. Hab Mitleid, Genosse… hab Mitleid…«

Nach der Geburt rannte Kaljonin weiter. Man hatte Vera gesehen, vor ein paar Stunden. Verwundet war sie, an der Stirn, nur ein Streifschuß. Sie sagte, sie wolle zurück zum Wolgaufer laufen, um Trinkwasser herbeizuschaffen. Und Hirse und Mehl… In einem Keller hatte sie vierzehn Frauen und Kinder gefunden, die seit acht Tagen nichts anderes aßen als eine schleimig-leimige Suppe, die sie aus geraspelten Deckenbalken kochten. Kaljonin ließ ihnen seine Brotration dort und rannte zurück zur Wolga.

Sie lebt, meine Veraschka, schrie es in ihm. Man hat ihr die schöne Stirn angekratzt, aber so ein Närbchen wird sie verzieren, nicht entstellen. Seht, wird man sagen, diese süße Narbe… im Großen Vaterländischen Krieg hat sie sie bekommen, mitten in Stalingrad! Und die Kinder werden davon erzählen und die Kindeskinder. Vera Kaijonina war ein tapferes, mutiges Mädchen.

Am Steilufer der Wolga erfuhr Kaljonin von der Gefangennahme des ganzen Lazaretts, als man versucht hatte, den Helden der Nation, Oberst Sabotkin, zu bergen. So gehen sie dahin, dachte Kaljonin und empfand einen eisigen Panzer der Angst um sein Herz. Erst der Major Kubowski, dann Dr. Sukow und die Pannarewskaja. Wenn man bloß Veraschka findet… Iwan Iwanowitsch rannte weiter. Er fiel nicht auf in dem Gewühl der Truppen, die im Schutz des steilen Wolgaufers sich sammelten und bereitstanden für den Tag, an dem die deutsche 6. Armee in der roten Flut ertrinken sollte.

Zwei Minuten nach 10 Uhr, am 10. Januar 1943, zwei Minuten nachdem das Ultimatum Generalleutnants Rokossowskij abgelaufen war, öffneten sich die Schleusen der letzten Hölle.

Fünftausend Geschütze aller Kaliber und Arten trommelten zwei Stunden lang auf die deutschen Stellungen. Auf eine Länge von achtzig Kilometern, auf einen riesigen Halbkreis krachte eine feurige Faust, hob sich die gefrorene Erde, schmolz der Schnee, wurde vereister Boden in der Glut der Detonationen zu Schlamm. Zwei Stunden lang hämmerten die sowjetischen Geschütze und Werfer, Mörser und Stalinorgeln auf das Land und pflügten es mehrmals um… zwölf armselige deutsche Divisionen lagen in diesem Feuerhagel, 540 zusammengeschrumpfte, hungernde, frierende, ausgemergelte, müde Kompanien wurden in den Boden gedrückt.

Nach diesem Feuerschlag traten die weißgetünchten Panzermassen der Sowjets an allen Fronten zum Angriff an… ein Ring feuernder Rieseninsekten, die den Kessel von allen Seiten eindrückten. Hunderte, Tausende stählerner Ungetüme… die deutschen Regimenter standen ihnen fassungslos und wehrlos gegenüber.

Im ganzen Kessel von Stalingrad befanden sich an diesem Tag noch vierzehn deutsche Panzer, die einsatzfähig waren! Sechzehn Panzer waren eingegraben worden, weil ihnen der Sprit fehlte. Sie bildeten kleine Forts, bis ihnen die Munition ausging.

In Stalingrad-Stadt hörte und sah man diesen Beginn des Sterbens einer Armee. Man saß an den Funkgeräten und nahm die Meldungen der Divisionen und Regimenter auf, die in kürzester Zeit überrollt wurden oder fluchtartig zurückgehen mußten. Aus allen Meldungen war zu erkennen, daß der Hauptstoß der sowjetischen Panzer auf Karpowka und über Dimitrijewka hinauf auf Pitomnik zielte, auf den Flugplatz Pitomnik, die Lebensader der 6. Armee.

«Mein Gott…«, sagte Dr. Portner am Abend des 10. Januar. Er saß mit Dr. Körner, Dr. Sukow und der Pannarewskaja am Funkgerät und sammelte die Sprüche der einzelnen Divisionen ein.»Das ist das Ende…«

Dr. Sukow schwieg. Nur seine Augen leuchteten. Er hatte seit seiner Gefangennahme und dem kurzen Gespräch mit Dr. Portner vor der Operation an Oberst Sabotkin kein Wort mehr gesprochen. Es war, als könne er seine Verachtung für die Deutschen nicht besser ausdrücken als dadurch, daß er sie übersah und sie nicht für wert hielt, ein Wort aus dem Mund des Chefchirurgen Sukow zu hören. Dr. Körner und Olga Pannarewskaja saßen dicht nebeneinander. Als die Funksprüche den Zusammenbruch der äußeren Stellungen klarwerden ließen, tastete sie nach seiner Hand und umfaßte sie.

In der Stadt war es jetzt stiller als am Einschließungsring. Die sowjetischen Divisionen drückten die ausgebluteten deutschen Regimenter nach Osten… die >Nase von Marinowka< wurde überrannt, Zybenko im Süden niedergewalzt… am Abend des 10. Januar 1943 meldete die 6. Armee an die deutsche Heeresgruppe >Don<:

Armee meldet schwere russische Durchbrüche, Norden, Westen, Süden, mit Zielrichtung Karpowka und Pitomnik. 44. und 76. Infanteriedivision schwer angeschlagen, 29. mot. nur mit Teilen einsatzfähig. Keine Aussicht, entstandene Durchbrüche zu schließen. Dimitrijewka, Zybenko undRadiotin aufgegeben…