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Dr. Portner las die Armeemeldung langsam vor. Auf einer Karte zeichnete Dr. Körner den neuen Frontverlauf mit einem Bleistiftstummel ein.

«Wenn das so weitergeht, sind wir in vier Tagen zusammengedrückt«, sagte Dr. Portner.

Dr. Sukow lehnte sich zurück an die feuchte Kellerwand.

«Es wird so weitergehen…«

«Soll ich Ihnen gratulieren?«Dr. Portner sah zu Dr. Körner und Olga Pannarewskaja. Sie verließen den OP-Keller.»Sie wissen, daß wir hier alle in die Hölle fahren… auch Sie…«

«Ja.«

«Und das regt Sie nicht auf?«

«Nein.«

«Es regt Sie nicht auf, daß das alles sinnlos ist?«

«Nein. «Dr. Sukow sah auf den tickenden Funkempfänger. Neue Meldungen von den Fronten jagten sich. Neue Aufschreie des Sterbens.

Während die 6. Armee in den glühenden Zangen der russischen Panzerdivisionen zerdrückt und zermalmt wurde, wurde im Führerhauptquartier der Text für den Wehrmachtsbericht des 11. Januar vorgelegt. Er enthielt über den Untergang des Kessels Stalingrad nur einen einzigen Sammelsatz:

Das Oberkommando der Wehrmadit gibt bekannt: In Nordkaukasien, bei Stalingrad und im Dongebiet wurden fortgesetzte Angriffe zahlenmäßig überlegener Infanterie- und Panzerkräfte der Sowjets in schweren Kämpfen blutig abgewiesen.

Weiter nichts. Für Hitler war die 6. Armee bereits gestorben.

In einem Granattrichter saßen Dr. Körner und die Pannarewskaja. Sie starrten in den Nachthimmel, der von allen Seiten durchzuckt war von Bränden und Wetterleuchten. Ein riesiger Mond hing über der Stadt, unwirklich in seiner brennenden Kälte.

«Hast du Angst?«fragte die Pannarewskaja.

«Nein. «Dr. Körner lehnte den Kopf an den Trichterrand.»Wovor Angst?«

«Vor dem Sterben, Liebster…«

«Ich habe nie daran gedacht, wie es sein könnte, einmal nicht diesen Mond zu sehen, oder die Sterne, oder die Sonne, oder dich… Ich wußte nicht, daß es dich gibt. Jetzt müßte ich denken: Wie schön wäre es, nicht ’in einem Granattrichter, sondern im hohen Sommergras zu liegen, mit dir, deinen Atem zu hören, deine Wärme zu spüren… Aber ich kann es nicht denken… Es ist alles so leer in mir… so ausgebrannt wie die Ruinen um uns…«

Olga Pannarewskaja legte den Arm um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seine unrasierte, stachelige Wange. Jetzt sprach sie russisch, ihr Herz war so voll, daß ein deutsches Wort keinen Platz mehr hatte.

«Skolko tebje Ijet?«fragte sie. (Wie alt bist du?)

«Sechsundzwanzig, Olga.«

«Dai mnje twoju ruku…«(Gib mir deine Hand.)

26 Jahre ist er alt, dachte sie. Drei Jahre jünger als ich. Aber wir alle sind noch zu jung, um zu sterben. Was wissen wir denn vom Leben? Was hat man uns denn an Schönheit gegönnt? Haben wir überhaupt schon gelebt?! Was war es denn, dieses Leben? Ein Bauerndorf, ein betrunkener Vater, eine geduldige Mutter. Die Schule, die Jungaktivistenverbände, die Komsomolzen, die Universität, die Klinik, der Krieg… und nur immer lernen, arbeiten, aktivieren, Soll erfüllen, das Vaterland lieben, dienen, gehorchen… Man hatte das Herz vergessen. Jetzt spürte man es, ein paar Schläge, bevor es zerrissen werden würde.

Sie legte ihre Hände um Körners schmalen Kopf und drehte sein Gesicht zu sich. Ihre großen, schwarzen herrlichen Augen glänzten.

«Pozelui menja…«, sagte sie. (Küß mich.)

Er küßte sie, und unter ihren Lippen, die heiß waren und sich öffneten, begann er zu zittern und umklammerte ihre Schultern.

«Wir sind verrückt«, sagte er heiser.»Mein Gott… wir sind ja verrückt…«

«Jtibja ljublju…«(Ich liebe dich), sagte sie. Sie drückte seinen Kopf an ihre Brüste und streichelte seine blonden Haare.»Warum sollen in einer verrückten Menschheit wir zwei die einzigen Normalen sein? O mein Liebling… morgen ist es vorbei… oder in dieser Nacht… in einer Stunde… gleich, in der nächsten Sekunde… wissen wir es?«

«Warum machst du uns das Sterben so schwer, Olga?«

«Es wird nicht schwer sein… wir werden uns umarmen und wissen, warum wir sterben… Die Welt, in der wir leben könnten, wird es nie geben. Wir sind ein verfluchtes Geschlecht…«

Die Panzerkeile der sowjetischen Divisionen rasselten auf Pitomnik zu. Ihnen entgegen liefen, stolperten, tappten, taumelten, krochen auf Händen und Knien, wurden gezogen oder getragen, in Zeltplanen, auf Brettern, in leeren Munitionskisten, stöhnend, wimmernd, schreiend, fluchend, über 14 000 deutsche Verwundete.

Keiner von ihnen erreichte mehr den Flugplatz. Sie blieben auf der Straße, am Wegrand… sie schneiten zu, erfroren, wurden überfahren, in das Eis gestampft… 14 000 Männer mit aufgerissenen, blutenden Leibern… eine Stadt, so groß wie Oelde oder fünfmal mehr als Meersburg am Bodensee.

«Ich liebe dich…«, sagte die Pannarewskaja.»Wir wollen an nichts anderes mehr denken… auch das Denken ist vorbei…«

Kapitel 12

Die Luftversorgung brach, zusammen. Nur Gumrak wurde noch angeflogen. Dort landeten die Ju 52 mit dem Material, auf das die 6. Armee händeringend wartete… Waffen, Munition, Sprit für Panzer und Fahrzeuge, Sanitätsmaterial, Verpflegung… 500 Tonnen täglich hatten Hitler und Göring der Armee versprochen, nicht einmal der zehnte Teil wurde geliefert. Hinzu kam, daß nicht alles, was in Pitomnik oder Gumrak gelandet wurde, auch bis nach vorn an die kämpfende Truppe kam. Die Bürokratie der Beamten, die selbst in der Hölle nicht aufhört, was Stalingrad bewies, verhinderte mit deutscher Gründlichkeit die auch nur notdürftige Versorgung der kämpfenden Truppe. Von den 334 000 eingeschlossenen Mann waren 66 500 wirkliche Fronttruppen… die anderen, also über 270 000 Mann, gliederten sich in Nachschubeinheiten, Werkstätten, Eisenbahnbataillone, Bautrupps, Troß, Führungsstäbe, Transportstaffeln; es war klar, daß diese >Truppen am Drücker< zuerst von dem einfliegenden Material das abstaubten, was sie selbst brauchten. Für die kämpfenden, ausgebluteten, hungernden, frierenden, erschöpften Landser in den Löchern und Kellern Stalingrads, in den Erdbunkern und Schneewehen der schutzlosen Steppe blieb der kärgliche Rest. Vom 10. Januar an war es täglich fast nichts, vom 16. Januar ab gar nichts mehr… von Pitomnik flüchteten die Zahlmeister in warmen, dicken Lammfellmänteln und hohen Filzstiefeln… in der Steppe von Rakotino lagen die sterbenden Kompanien in dünnen Sommermänteln bei 40 Grad Kälte auf dem Eis, und in den Knobelbechern erfroren die Füße, weil es nicht einmal Wollsocken gab. Die lagen in einem riesigen Versorgungslager irgendwo im Kessel, das beim Anrük-ken der sowjetischen Panzer in Brand gesteckt wurde, nachdem der Stabszahlmeister vorher ordnungsgemäß die Posten ausbuchte und die Listen abschloß. Die Kisten mit den Bestandsmeldungen nahm er auf der Flucht mit. Er wollte beweisen, daß alles korrekt ge-handhabt worden war. Zwei Tage vorher hatte er sich geweigert, die Socken, es waren einige tausend, an durchziehende Truppen auszugeben, weil er keinen Befehl dazu hatte.

Stalingrad bewies, daß eine Armee auch durch die Korrektheit deutscher Beamter sterben kann.

Am 16. Januar fiel Pitomnik in sowjetische Hand. Die beiden letzten deutschen Flakbatterien der Flak-Artillerie-Schule Bonn sprengten ihre Geschütze, nachdem sie alle Granaten verschossen hatten und kein Sprit mehr vorhanden war, sie abzutransportieren. Die Lebensader des Kessels, der Flugplatz Pitomnik, war durchschnitten. Die Versorgung aus der Luft geschah nur noch durch Abwerfen von Verpflegungs- und Materialbomben, am Tage sechs bis acht Tonnen. Und fünfhundert wurden gebraucht!

Die 6. Armee war ein riesiger Leib, der stückweise abstarb, der von allen Seiten zur Mitte hin verfaulte… bis zum Herzen, das weiter schlug… in den Trümmern einer Stadt, die nicht einmal mehr einer Mondlandschaft glich.

Das alles geschah in fünf Tagen.

Und fünf Tage sind eine kurze Zeit…