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Es gab keinen anderen Weg in diesen Tagen als nach Osten, hinein in die Stadt. Je enger die Zange gedrückt wurde, um so mehr fluteten die deutschen Einheiten aus der Steppe in die Ruinenwüste. Hier gab es wenigstens Keller, in denen man sich verkriechen konnte, hier gab es Erd- und Steinwälle, geschützte Gräben, Ruinen und ausgebaute Trichter, hier waren zwar auch 40 Grad Kälte, aber der Wind brach sich in den Trümmern und heulte nicht über den weißgedeckten Tisch der bäum- und strauchlosen Steppe. Hier gab es Wärme, denn jede Ecke in den Ruinen, wo der Wind nicht wehte, wurde als warm empfunden. Hier gab es sogar Brunnen, die noch klares Wasser spendeten, hier gab es Balken und Dachlatten, Eisenbahnschwellen und Dielenbretter, die man verheizen konnte und die man raspelte und sägte, um aus dem Holzmehl eine sämige Suppe zu kochen, angereichert mit dem dickenden Fußpuder, von dem sinnigerweise noch genug vorhanden war.

Also hinein in die Stadt… hinein in die Trümmerwüste weg aus der Steppe, in der die weißgestrichenen sowjetischen Panzer alles in den Schnee mahlten, was sich vor ihnen bewegte.

Nur noch in Gumrak landeten die Flugzeuge. Der Kessel war zusammengeschrumpft wie ein Bratapfel. Er war 25 km lang und 16 km breit. In ihm wimmelten 284 000 Mann wie aufgescheuchte Ameisen herum, wurden mit Bomben belegt, von Salvengeschützen in die Erde gepflügt, von Stalinorgeln zerrissen, unter Panzerketten zerquetscht, von Minen in die Luft geschleudert, verhungerten, erfroren, schrien im Fieber, lösten sich in Eiter auf, krochen herum wie blinde Hunde, ein Aufbäumen gegen das Grauen, eine sinnlose Flucht vor der Vernichtung.

Die Lazarettkeller von Stalingrad quollen über.

Dr. Portner stand hilflos der Flut gegenüber, die über die steile Treppe in sein Kellerlabyrinth unter dem Kino hinabspülte. Sie krochen auf allen vieren heran, die zerfetzten, brandig-schwarzen Glieder hinter sich herziehend, sie grinsten im Fieberwahn oder rollten brüllend die Stufen herunter, sie bissen sich um einen Platz im Keller und fielen wie Hyänen über die Toten her, schleiften sie weg, eroberten sich den frei werdenden Kellerfleck. Und dann lagen sie da, wurden apathisch, faulten dahin, beteten mit Pastor Sanders und Pfarrer Webern, und immer war es das gleiche, das sie in merkwürdiger Ruhe sterben ließ: der Gedanke an zu Hause, die Erinnerung an die Frau, die Mutter, die Braut, die Kinder. Sie sahen in den letzten Minuten ihren Garten, ihr Haus, die Wohnung, das Sofa, auf dem sie gesessen hatten, sonntags, wenn es starken, duftenden Kaffee gab und einen Rosinenblatz, dick mit Butter bestrichen. Nach dem Essen fahren wir alle hinaus… an den Wannsee… in den Grüngürtel… in den Königsforst… an die See… nach Starnberg… nach Heringsdorf, Bansin oder Ahlbeck… zum Kahlen Asten… an die Möhnetalsperre… Sonntag! Mutter, pack den Kartoffelsalat ein! Und zwei Flaschen Kaffee. Und für’n Papa ’ne Flasche Pils.

So starben sie… in der Hölle sich erinnernd an das kleine Paradies… die einen umklammerten die Hände ihres Pfarrers, die anderen streckten sich lautlos, einige schrien noch einmal… 132 000 Männer waren es bis Ende Januar 1943. Sie hätten gern darauf verzichtet, Helden genannt zu werden. Sie waren nichts anderes als Opfertiere deutschen militärischen Versagens… nicht allein Opfer Hitlers, auch Opfer des deutschen Offizierskorps, das in blindem Gehorsam erstarrt war, weil es nichts anderes kannte, als blind gehorchen.

«Geben Sie mir ein Skalpell«, sagte Dr. Sukow finster.

«Wozu?«

«Ich will helfen.«

«Gehen Sie in Ihren Keller, schlafen Sie und träumen Sie von dem Sieg Ihrer glorreichen Roten Armee. «Die Stimme Dr. Portners war voller Bitterkeit.

«Ich bin Arzt wie Sie…«Dr. Sukow winkte. Die beiden sowjetischen Krankenträger hoben einen deutschen Verwundeten auf den Brettertisch. Er hatte die linke Schulter zertrümmert, die Knochensplitter hingen an den zerfetzten Muskeln. Er hatte die Zähne zusammengebissen und starrte den Russen aus fiebernden Augen an.

«Wenn Sie mir ein Skalpell abgeben, Kollege…«, sagte Dr. Sukow höflich. Dr. Portner griff zu seinem Tisch und hielt ihm sein Messer entgegen.

«Bitte.«

«Danke. «Dr. Sukow sah den deutschen Soldaten an. Er war ein älterer Mann, sein Stoppelbart war mit weißen Haaren durchsetzt.

«Kinder?«fragte Sukow. Der Landser nickte.

«Vier — «, stöhnte er.

«Du wirst sie wiedersehen. «Er streckte die Hand aus, einer der russischen Krankenträger gab ihm den Hammer, mit dem sie den Tisch gezimmert hatten. Dr. Sukow wickelte einige Lagen alten, durchbluteten Zellstoffes darum, dann ein paar Streifen des zerrissenen Stalinbildes. An der stumpfen Schlagfläche des Hammers glänzte ein großes Auge Stalins.

«Denk an deine Kinder…«, sagte Dr. Sukow zu dem Verwundeten. Dann hieb er ihm mit dem Hammer auf den Kopf, der Verletzte kippte um, die russischen Träger legten ihn zur Operation zurecht.

Dr. Portner hatte sprachlos dieser Narkose zugesehen. Er nahm den Hammer vom Tisch und betrachtete ihn.

«Betäubt vom Auge Stalins«, sagte er und legte den Hammer zurück.»Ich gratuliere, Kollege — Sie haben Sinn für schwarzen Humor — «

Dr. Sukow zog die Knochensplitter aus der Schulter. Er arbeitete schnell und ruhig, wie in einem großen, modern eingerichteten Operationssaal. Olga Pannarewskaja assistierte. Ab und zu be-gegneten sich ihre Blicke. Es war, als fragten sie sich stumm und antworteten ebenso stumm.

In der Nacht verschwand die Pannarewskaja. Emil Rottmann hatte sie zuletzt gesehen. Sie stand in den Trümmern und sah hinüber zur Wolga. Ein riesiger Flammenwall war dort, der Glückstreffer einer deutschen Granate hatte ein Benzinlager in Brand gesetzt. Dann war Rottmann weggegangen. Man war es gewöhnt, daß die sowjetischen Ärzte nicht bewacht wurden.

Dr. Körner saß vor sich hinbrütend auf seinem Strohsade.

«Da kann man nichts machen, mein Junge«, sagte Dr. Portner und löffelte die Pferdefleischsuppe. Knösel hatte die >Vorräte< durchgezählt. Das Essen für das Lazarettpersonal reichte noch für 10 Tage, wenn es täglich nur einen Teller Suppe und zwanzig Gramm Brot — eine Scheibe also — gab. Wovon die 3000 Verwundeten verpflegt werden sollten, die im Keller und rund um ihn herum in den Trümmern lagen, wußte keiner. Wer nichts mitbrachte, würde verhungern… das war das einzige, was man sicher wußte.

«Sie ist zurück zu ihren sowjetischen Brüdern.«

«Das glaube ich nicht«, sagte Dr. Körner dumpf.

«Wenn auch die Liebe eine Himmelsmacht ist… auch der Himmel hat Grenzen.«

«Warum ist Dr. Sukow dann nicht mitgegangen?«

«Ja, warum?«Dr. Portner hob sich ein kleines Stück Pferdefleisch bis zuletzt auf. Er schob es im Kochgeschirrdeckel hin und her und löffelte erst die Wasserbrühe und die zehn weißen Bohnen. Knösel zählte sie immer gewissenhaft ab. Ob Schütze O oder Stabsarzt… zehn Böhnchen am Tag.»Das habe ich mich auch gefragt. Auf alle Erkundigungen nach der schicken Olga gibt er keine Antwort. Aber er weiß, wo sie ist, so wahr wie ich jetzt dieses Klümpchen Fleisch esse, als sei es eine Spargelspitze in Butter geschwenkt…«Er klopfte Dr. Körner auf die Schultern und drückte ihn auf den Strohsack zurück.»Schlafen Sie erst mal! Sie fallen ja aus der Hose! Sukow vertritt Sie. Sehen Sie sich bloß an, wie er arbeitet. Wie eine Maschine, die darauf eingestellt ist, Glieder abzuhacken. Körper ’rauf, knack-knack, Körper ’runter. Der nächste. Der Mann ist ein Phänomen. So etwas würde bei uns nie Ordinarius, weil alle anderen Mediziner vor seinem Können Angst hätten und Minderwertigkeitskomplexe. Nur ein Muffel ist er… er spricht kein Wort.«

«Er verachtet uns.«

«Ach nee! Sagt das die Olga?«

«Ja.«

«Und warum?«

«Er ist Bolschewist durch und durch. Er kommt sich uns überlegen vor. Er ist der Sieger.«

Dr. Portner sah zu Dr. Sukow hinüber. Mit seinen beiden Krankenträgern und einem deutschen Assistenzarzt schob er die