Eine Pfeife mit richtigem Tabak. Es schnurgelte und brutzelte im Pfeifenkopf, es war eine wahre Pracht. Selbst die Sotte war köstlich; Knösel schluckte den scharfen Saft, der aus dem Mundstück tropfte, wie Baldrian.
Das war eine jener Minuten, in denen ein glücklicher Mensch seine Umwelt völlig vergißt.
Eine Stunde später brachte ein Stoßtrupp die verwundete Vera Kaijonina in den Keller Dr. Portners. Man hatte sie aufgegriffen, als sie mit zwei Gummisäcken voller Trinkwasser durch die Straßen kroch. Sie hatte sich gewehrt wie eine Katze. Erst ein Kolbenhieb über den Kopf machte sie stumm. Das war ihre Verwundung, eine Platzwunde über der Stirn.
Dr. Sukow verband sie, nachdem er sie wie eine Schwester umarmt und geküßt hatte.
«Sollen wir ein Kaffeekränzchen machen?«sagte Dr. Portner bitter.»Noch ist Krieg, Genosse!«
«Nicht mehr lang«, sagte Dr. Sukow ernst.
Dr. Portner hob beide Hände gegen den Himmel.»Ihre Weissagung in Gottes Ohr, Kollege. Schön wär’s.«
Für Knösel war es klar, wer die neue Gefangene war. Er brauchte nicht zu fragen. Bei der ersten passenden Gelegenheit, und Knösel schaffte sie, indem er dem fiebernden Oberst Sabotkin etwas zu trinken brachte, redete er Vera Kaijonina an.
«Kannst du Deutsch?«
«Ja. Von Schulä.«
«Ich soll dich grüßen von Iwan —«
«Nein!«Veras Herz setzte aus. Sie preßte die Hände gegen ihre Brust. Knösel seufzte. Er beneidete die Hände.»Du ihn kännän…?«
«Ja. Er hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern. «Knösel suchte in seinen Taschen etwas. Endlich fand er es… die Stofffäden, die Kaljonin ihm mit dem Tabak in die Hand gedrückt hatte.»Das ist von seiner Uniform — «
Vera nahm die dünnen Fäden und sah sie an. Ihre schönen, runden Augen glänzten. Sie drückte die dreckigen Fäden an die Lippen und küßte sie.
«Wanja«, sagte sie zärtlich.»O Wanja…«
Mit einem Gesicht, als wolle er losheulen, verließ Knösel den Keller. Später saß er oben neben dem Leichentrichter IV und starrte in die Ruinenstadt.
.. Der Morgen dämmerte auf. Von der Wolga pfiff der Wind. Über die Trümmer stob der Schnee.
Ob Mariechen mich auch so liebt, dachte er. Drei Monate habe ich nichts mehr von ihr gehört. O Mariechen —
Es waren 37 Grad unter Null. In der Steppe rollten die sowjetischen Panzer die deutschen Linien auf. Der Kessel wurde eingedrückt. Gondschara mit seiner berühmten Schlucht ging verloren, im Süden stand der Russe vor Woroponowo. An dem eingegrabenen Panzer vorbei, in dem Kaljonin mit seiner Gruppe gehockt hatte, donnerten die T 34 und durchstießen die deutschen Verteidigungen, die aus Schneelöchern bestanden. Tausende aller Waffengattungen strömten in die Stadt. Auch das Armee-Oberkommando mit Generaloberst Paulus und dem gesamten Stab zog in das Ruinenfeld Stalingrad. Es geschah sogar vorschriftsmäßig… einige Quartiermacher durchkrochen die Trümmer und warfen den Stab der 71. Infanteriedivision aus seinem Gefechtsstand. Er wurde für das Armee-Oberkommando als besonders geeignet auserwählt. Die 71. Infanteriedivision verkroch sich in das Kellerlabyrinth des GPU-Hauses.
Dr. Portner bekam einen Vorgeschmack von der Nähe der Armeeführung. Ein Major erschien bei ihm im Keller, stieg über die faulenden, verkrümmten, wimmernden Körper und stellte sich neben den Arzt. Portner sah kurz auf. Er suchte mit einer Sonde nach einem Geschoß im großen Rückenmuskel.
«Sie wünschen?«
Der Major mit den rosaroten Streifen des Generalstäblers an den Hosen drückte das Kinn an.
«Wer ist der Orang-Utan oben vor dem Keller?«
Dr. Portner lächelte schwach.»Sie meinen Knösel?«
«Der Mann wird sich morgen bei der Division melden.«
«Warum?«
«Er rief mir den Götz entgegen, als ich ihn anhielt, weil er nicht grüßte. Unerhört!«
«Herr Major — «Dr. Portner tippte mit der Sonde auf das zuk-kende, aufgerissene Fleisch.»Es ist Ihnen wirklich nicht zuzumuten, dieser Aufforderung Folge zu leisten.«
Der Major stutzte, verzichtete auf eine Entgegnung und ging.
Dr. Körner, der von draußen kam, brachte die Neuigkeit mit.»Paulus verlegt in die Stadt«, rief er.»Das Vorkommando rückt schon ein…«
«War schon da, mein Bester. Nach dem ersten Eindruck, den sie hinterlassen, kennen sie noch nicht das Gefühl des Arsches mit Grundeis.«
Dr. Portner hatte das Geschoß gefunden. Es war ein Dumdumgeschoß, mit abgekniffener Spitze, das entsetzliche Wunden reißt.»Mir scheint, daß einige der rothosigen Herren aus rosigen Träumen erwachen werden… nur müssen wir für ihren Schlaf bezahlen…«
Knösel starrte hinaus in den Morgen. Es schneite, und es stürmte. Aus allen Himmelsrichtungen hallten Detonationen in die Stadt.
Ob ich das überleben werde, dachte er. Ob ich Berlin wiedersehe? Mariechen —?
Er beugte den Kopf nach vorn und legte ihn in beide Hände. Auch ein Knösel hat Nerven…
Um den 20. Januar herum wußte jeder, daß man die Tage zählen konnte bis zum Ende. Die verzweifelte Bitte Generaloberst Paulus’, ausbrechen zu dürfen, wurde vom Führerhauptquartier erneut abgelehnt, nachdem die Berechnung der von der 6. Armee angegebenen Benzinmenge ergeben hatte, daß die Panzer und Fahrzeuge nur einen Aktionsradius von 30 km haben würden, bei Ausnutzung des letzten Tropfens Sprit. Das war eine Entfernung, in der der 6. Armee niemand entgegenkommen konnte. Die Armee Hoth war noch zu weit entfernt, ihr entgegen warfen die Sowjets alles, was von der Kesselfront abzuziehen war. Auch das Drängen General von Seydlitz’ war vergeblich; die Funksprüche, die die 6. Armee hinausjagte, wurden ignoriert, weil es einfach keinen Untergang, keine Kapitulation geben durfte. Hitlers Worte:»Wo der deutsche Soldat steht, bleibt er stehen, und keine Macht der Erde wird ihn vertreiben…«, wurden konsequent durchgeführt. Man befahl den Tod von 330 000 deutschen Soldaten.
Nur noch auf dem Flugplatz Gumrak landeten die wenigen Jus. Sie brachten täglich sechs oder acht Tonnen Material und nahmen Verwundete mit… einige hundert von den Tausenden. Allein auf dem Bahnhof, in den Waggons, in Baracken, neben den Lazarettzelten, in Schneelöchern, neben Eisenbahnschienen, unter Holzschwellen, Kistenbrettern, Unterständen aus Munitionskisten, in den Trümmern von Lastwagen und Panjekarren lag ein Berg von dreißigtausend Toten. Steif gefroren, Menschenbretter, konserviert für die sowjetischen Aufräumungstrupps, die einmal kommen würden um die Eiszapfen mit den menschlichen Gesichtern auf ihre Autos zu laden und in einer Schlucht abzukippen, mit Chlorkalk zu überschütten und dann Erde über die Berge zu walzen. Dreißigtausend, die nach Gumrak gestolpert, gekrochen, getragen worden waren, um auf ein Flugzeug zu hoffen, auf einen Winkel in einer Ju, der Leben bedeutete.
Ober der Stadt wurden jetzt Verpflegungsbomben abgeworfen. Es war die einzige Möglichkeit, die kämpfende Truppe noch zu versorgen. Zwar waren es nur wenige Bomben, die aus dem Schneehimmel torkelten, denn die sowjetischen Jäger und Flak legten einen Riegel um die Stadt, aber manchmal gelang es doch einer Maschine, die Trümmer anzufliegen und ihre Lasten abzuwerfen.
Die große Zeit Knösels begann. Sein Markierungstuch bewirkte Wunder. Es zog die Flugzeuge wie magnetisch an. Das hatte einen ganz einfachen Grund: Markierungstücher solcher Größe hatten nur Divisionsstäbe. Von den Gefechtsständen wurde dann die Verteilung vorgenommen. Trägerkolonnen brachten die Lasten von dort zu den Regimentern und Bataillonen.
Am 21. Januar 1943 lag eine Kiste im Schnee neben dem Markierungskreuz. Knösel hatte es sich abgewöhnt, einen Luftsprung vor Freude zu machen oder Emil Rottmann vor Begeisterung in den Hintern zu treten. Er schleppte die Kiste ab und begann, sie im Vorratskeller aufzustemmen. Dr. Körner und Dr. Portner standen dabei. Es war ein beliebtes Ratespiel geworden: Munition oder Verpflegung, Säcke mit Mehl oder Hartkeks, Büchsen oder Beutel?