«Mensch, wat soll det?«stotterte er.
Kaljonin umarmte ihn und küßte ihn wie einen Bruder auf beide Wangen.
«Ich weiß, Veraschka ist bei euch, nicht wahr?«sagte er danach.
«Ja — «
«Briederchen, ich bitte dich… laß mich zu ihr. Verrat mich nicht… Bittää…«
«Du bist total verrückt, Iwan…«Knösel saß ein dicker Kloß im Hals.»Das fällt doch auf…«
«Bittää—«
Kaljonin griff in die Tasche. Als er die Hand wieder ausstreckte, war sie mit Machorkastückchen gefüllt. Knösel schluckte krampfhaft.
«Wir haben nichts zu fressen, Junge«, sagte er heiser.»Bei uns kannste nur verhungern…«
«Laß mich zu Veraschka, Briederchen…«
Kaljonin umklammerte den Arm Knösels. In seinen Augen schrien Angst und unendliche Bitte.»Verrat mich nicht…«
Knösel setzte sich langsam auf einen Mauerrest. Ein Gedanke war ihm gekommen, eine Versicherung zum Leben.
«Hör zu, Iwan«, sagte er und zog Kaljonin zu sich auf den Mauerrest.»Wir zwei sind ’ne Marke für sich! Daß du ’n Iwan bist und ich ’n Germanskij, det is nun wurscht. Menschen sind wir, und bei mir zu Hause wartet Mariechen auf mir. Ick schlag dir ein Geschäft vor… einverstanden?«
Kaljonin nickte und lächelte selig.
«Kriegg kaputt — «, sagte er.»Aber nicht wir…«
«Genau det meine ich. «Knösel legte den Arm um Kaljonins Schulter.»Und nun paß mal uff — «
Bevor er weitersprach, kassierte er erst die Machorkakrümel aus der Hand Kaljonins. Für Iwan Iwanowitsch war damit der Vertrag perfekt geworden, für Knösel war es lediglich eine Anzahlung. Seine große Stunde war gekommen: Er würde Stalingrad überleben.
«Ich nehm dir mit in’n Keller«, sagte er.
«Gutt, Briederchen.«
«Ick saje, du seist ’n alter Kumpel von mir, den ick jerade wiedergetroffen habe. Aus Schlesien, vastehste! Du bist aus Schlesien. Aus Ratibor, wenn dir eener fragt.«
«Ratibor — «, wiederholte Kaljonin und nickte.
«Det is ’ne Stadt. Dat ha’ ick ’nen Onkel wohnen. Onkel Christian… den kennste ooch, wenn dir eener fragt…«
«Onkel Christian…«, wiederholte Kaljonin brav.»Ratibor… Onkel Christian…«
Knösel winkte ab.»Am besten hältste de Schnauze, Kumpel! Det ist am ungefährlichsten. Nur eener kann dir frajen, det ist eener von der Feldpolizei. Der Rottmann. Zu dem sagste schlicht: Leck mir am Arsch! Kannste det?«
«Läck mir…«Kaljonin verzog das Gesicht.»Nix gutt, Brieder chen…«
Knösel wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. Er war an den Bartstoppeln zu Kristallen gefroren.»Stell dir doof«, sagte er als letzte Rettung.»Det fällt am wenigsten uff. Det sind se jewohnt… von mir, mußte wissen. Die halten mich nämlich alle für doof!«Knösel grinste und klopfte Kaljonin auf die Schulter.»Mit der Masche bin ick heil herumjekommen, und ick komme auch aus Stalingrad ’raus, wat? Und nun zu uns, Iwan. Ick helfe dir… du hilfst mir.«
«Ja, Briederchen.«
«Wenn die Scheiße hier zu Ende is, denn gehste hin zu deine Jenossen und sagst: Det da is der Knösel, dem tut man nischt. Der kriegt erst mal ’nen Schlag zu fressen…«
Kaljonin nickte und reichte Knösel seine Hand.»Du nix Angst vor Russki…«, sagte er fast feierlich.»Isch dich beschützen, värstandenn?«
«Und wie!«Knösel schlug die Arme gegen seinen Körper, die Kälte drang durch bis zu den Knochen.»Und nu komm, Frie-derich… Ach ja, so heeste jetzt. Sag maclass="underline" Friederich.«
Kaljonin versuchte es — es klang kläglich. Er hob bedauernd beide Arme.
«Ich nix sagen…«
«Himmel noch mal! Dann nenn ick dir Peter!«
«Piotr!«sagte Kaljonin stolz.
«Peter, du Dussel!«
«Peter, du Dussel…«, echote es laut.
Knösel sah Kaljonin mit geneigtem Kopf an.»’n bisker doof ist schön«, sagte er.»Aba bei dir habense det Jehirn ausjebla-sen…«Er gab ihm einen Rippenstoß und ließ sich in den Schnee gleiten.»Komm, Peter… wejen deiner Brieder müssen wir jetzt krabbeln.«
So kamen sie im Lazarettkeller an. Aber niemand fragte sie, keiner beachtete den deutschen, zerlumpten Soldaten, dessen Uniform am Rücken zerfetzt und blutdurchtränkt war. Nur ein Sanitäter registrierte mit einem Blick den Neuzugang und fragte im Vorbeigehen:
«Gehfähig?«
Kaljonin nickte hilflos.
«Keller 5. Such dir ’nen Platz…«
Knösel suchte Emil Rottmann, die einzige Gefahr. Er fand ihn an der Wand hockend und schlafend. Kaljonin stand noch immer am Ende der Treppe und starrte in das Gewimmel der eiternden und sterbenden Leiber, in das Gewimmer und Gestöhne, das Schreien und Greinen, auf die aufgequollenen Körper, die über den Steinboden zuckten, auf die beiden Pfarrer, die von Mann zu Mann gingen, niederknieten, beteten, die Hand hielten, die Augen zudrückten, das Kreuz schlugen und weitergingen. Boten Gottes, die in der aufgebrochenen Hölle von Liebe sprachen.
Kaljonin sah ihnen zu, und sein Herz wurde schwer. Er dachte an seine Ausbildung… die Schule mit dem Leninbild und dem eingehämmerten Satz: >Religion ist Opium fürs Volk<, bis sie es alle glaubten und mit nach Hause brachten, wo die Mutter noch immer den Herrgottswinkel mit der Ikone und dem Ewigen Licht schmückte. Die Komsomolzenschule, die Besichtigungen der herrlichen Kirchen und Kathedralen, in denen jetzt Museen waren oder gar — dreimal hatte es Kaljonin gesehen — eine Wodkadestillerie Als der Vater starb — er war ein guter Kommunist geworden und marschierte mit seiner Arbeiterbrigade am 1. Mai und am Oktoberrevolutionstag über den Roten Platz und schrie mit den anderen >Sieg! Sieg!< und >Freundschaft! Freundschaft!< — bekam er ein Parteibegräbnis 1. Klasse. Rote Fahnen, Abschiedsworte, im offenen Sarg, wie es üblich war, trug man ihn durch die Stadt zum Friedhof, bedeckt mit dem Fahnentuch der Partei, Mamaschka nahm noch einmal Abschied und küßte ihn auf die Stirn, Lubja und Katenka, die Klageweiber, heulten wie hungrige Wölfe, dann wurde der Deckel draufgeschraubt und der Sarg in die Grube gesenkt. In der Nacht aber war das zweite Begräbnis des Iwan Gre-gorowitsch Kaljonin. Da stand die Witwe Irena allein mit ihrem Söhnchen Iwan Iwanowitsch am Erdhügel, und ein Pope segnete den Toten ein, wie es seit Jahrhunderten Sitte war bei anständigen Menschen. Das hatte Iwan Iwanowitsch nie vergessen… und jetzt sah er es wieder, als er die deutschen Pfarrer von Mann zu Mann gehen sah, betend und tröstend, denn ein Mensch in dieser Lage hat nichts mehr als seinen Gott…
Knösel kam zurück.»Die Luft ist rein«, sagte er.»Emil pennt. Ick bring dir zu Vera…«
«Veraschka…«Durch Kaljonin lief ein Zittern. Knösel faßte ihn am Arm.
«Nu beherrsch dir, Iwan…«, sagte er dumpf.»Laß de Hose oben…«
Kaljonin sah Knösel fragend an. Er verstand ihn nicht. Der Keller zitterte und bebte plötzlich, von oben, vom Eingang, prallte Geschrei gegen die Mauern. Ein Mensch rollte die Treppeherab er hatte nur noch einen halben Kopf, das Gehirn klatschte über die Steinstufen.
«Eure Artillerie…«, sagte Knösel heiser. Er zerrte den Toten vom Eingang weg in eine Ecke, über einen anderen Mann, der rot und gut genährt wie ein Kantinenwirt aussah. Fast schien er zu platzen… Fieber und Wundbrand hatten ihn wie einen Ballon aufgetrieben. Aber er lebte noch, er hatte die Augen offen.
«Wo Vera?«flüsterte Kaljonin.
«Komm…«
Sie stiegen über die Körper, traten auf Hände und Arme, Schenkel und Bäuche, wurden gestoßen, geboxt, getreten, verflucht und kamen an den kleinen Keller, in dem neben Oberst Sabotkin, dem Helden der Nation, Olga Pannarewskaja, Dr. Sukow und nun auch Vera hausten. Knösel zeigte auf den lochartigen, dunklen, nur von einem Hindenburglicht erhellten Raum.
«Da — Aba paß uff, da liegt noch’n strammer Oberst drin! Such dir ’ne dunkle Ecke aus…«
Kaljonin riß sich von der Umklammerung Knösels los. Er stürzte in den kleinen Keller, der Windstoß, den sein Körper erzeugte, blies die jämmerliche Kerzenflamme aus.