Dr. Körner sah hinüber zu Pfarrer Webern. Sein Blick war groß, bittend und traurig. Unmerklich nickte ihm Webern zu und legte beide Hände über das goldene Kreuz, das er vor der Brust trug.
Oberst von der Haagen sprach weiter. Mit glühendem Pathos, mit ehernen Worten, mit zukunftsträchtigen Visionen.
Ab und zu blickte er schnell auf seine goldene Armbanduhr. Während der Rede klappte er die Ledermappe auf. Die Trau-urkunde war schon vorbereitet, es fehlten nur noch das Datum und die Unterschriften.
«In diesem Augenblick, lieber Kamerad Dr. Körner, vollzieht sich der ergreifende Akt der Werdung einer neuen deutschen Familie. Ihre Braut steht jetzt in Köln vor dem Standesbeamten, neben sich den symbolischen Stahlhelm, und wie sie in diesem Augenblick gefragt wird, frage ich nun Sie: Hans Ulrich Fritz Körner, wollen Sie die Marianne Erika Lieselotte Bader…«
Das >Ja< Dr. Körners war gepreßt und durchzuckt von innerer Ergriffenheit. Er hatte die Augen dabei geschlossen und versuchte sich vorzustellen, wie Marianne in diesen Minuten aussah: In einem weißen Kleid, mit einem kurzen Schleier auf den schwarzen Locken und einem Myrtenkranz darüber. Sie weinte und sah immer wieder auf den Stahlhelm neben sich — das war so sicher, wie er jetzt die Augen geschlossen hatte und 2000 Kilometer überbrückte.
«So erkläre ich Sie hiermit kraft meiner Vollmacht zu Mann und Frau«, sagte Oberst von der Haagen. Und mit einem Blick zu Pfarrer Webern fügte er hinzu:»Gott möge Ihren Lebensbund schützen.«
Er streckte Dr. Körner die Hand entgegen. Ein leiser Stoß in den Rücken, von einem der Trauzeugen, ließ Körner die Augen öffnen. Er sah die Hand und legte seine kalten Finger hinein.
«Ich danke Herrn Oberst«, sagte er.»Ich danke auch im Namen meiner Frau…«
Meine Frau, dachte er. Zum erstenmal — meine Frau. Frau Marianne Körner…
Über dem Flugplatz heulten Sirenen auf. Grell, auf- und abschwellend. Oberst von der Haagen ließ Körners Hand los.
«Fliegeralarm! Wieder «so'n paar sowjetische Störbrüder! Nicht mal in Ruhe heiraten kann man!«
Sie stürmten aus dem Zimmer, um die Bunker hinter den Baracken zu erreichen. Pfarrer Webern und Dr. Körner blieben allein zurück. Niemand kümmerte sich mehr um sie. Die Kerze flackerte, als rund um den Flugplatz die Flak zu schießen begann.
«Es wird lange dauern, bis sie in Wladiwostok sind«, sagte Webern und kam auf Körner zu. Er reichte ihm beide Hände und legte sein goldenes Kruzifix darüber.»Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau Gottes Segen. Mehr kann ich Ihnen nicht geben, Doktor. Ich bin ein armer Priester, der nur das Wort hat.«
Dr. Körner senkte den Kopf und sah auf das goldene Kreuz auf seinem Handrücken.
«Kommen Sie mich einmal besuchen, Herr Pfarrer?«fragte er.
«In Köln? Wenn es einmal möglich wird, natürlich…«
«Nein. In Stalingrad. In meinem Bunker am Tennisschlä gern Sie werden ihn leicht finden… wo die Blutenden durch die Trümmer hinkriechen und wo im Umkreis von zehn Metern die Granattrichter mit Leichen gefüllt sind… da bin ich in einem Keller Der Weg ist nicht zu verfehlen…«
Pfarrer Webern nickte.»Ich komme, Doktor. Bestimmt.«
Dann sahen sie stumm in den flackernden Schein der Kerze, und was sie dachten, verschlossen sie in ihren Herzen. Und doch wußte jeder vom anderen, was er verschloß.
Um sie herum bellte die Flak und zitterte der Boden. Die Barackenwände schwankten in den Druckwellen der Detonationen.
Der Obergefreite Knösel lag in einem Einmannloch und rauchte. Er hatte den Mantel über den Kopf gezogen und sah aus wie eine schlafende Fledermaus.
Ihn quälten andere Sorgen. Er hatte bei der Abfahrt in Stalingrad versprochen:»Kumpels… ich bringe euch einen Sack voll zu fressen mit!«Das wahr zu machen war eine Sorge, die ihn mehr beschäftigte als der Bombenregen, der über die Rollbahn II niederging.
Am Morgen mußte Iwan Iwanowitsch Kaljonin wieder zurück in die Stadt. Es gab keinen Urlaub, um das junge Frauchen in den Arm zu nehmen und zu schaukeln. Am Bahnhof hatten die Deutschen zwei Häuserblocks erobert, und auch am >Tennisschläger< hatten Pioniere ein System untereinander verbundener Keller ausgeräuchert. Da brauchte man Iwan Iwanowitsch Kaljonin, auch wenn er nur ein einzelner war. Auch ein einzelner Mann, der noch schießt, kann zu einer Gräte im Hals werden, an der man erstickt, sagt ein russisches Sprichwort.
Nichts da also mit Liebchen und schmatzenden Küssen, mit knirschenden Strohsäcken und dunklem Geraune am heißen Ohr! Man kann es nachholen, aber ein paar Meter Boden der Stadt in deutscher Hand, das kann der Tod von Mütterchen Rußland sein.
Vera Tscherkanowa, die jetzt also Kaijonina hieß, begleitete Iwan Iwanowitsch bis zum Kamm des Steilufers. Dort sah sie in die sterbende, in jeder Sekunde grell aufschreiende Stadt, und es krampfte sich ihr das Herz zusammen vor Angst und Liebe.
Selbst der alte Abranow war mitgekrabbelt und hockte hinter einer Bodenwelle, starrte hinüber in die Staubnebel und Feuerschleier, wo einmal seine Wohnung gewesen war, in einem schönen, neuen Haus, das eine Maurerbrigade in Rekordzeit gebaut hatte und das man allgemein als sehr gelungen angesehen hatte, weil es für _jede Familie sogar eine Toilette besaß, und er hatte Tränen in den Augen, als er Iwan Iwanowitsch umarmte und sagte:
«Wir sehen uns wieder, Söhnchen… bestimmt sehen wir uns wieder…«
Dann gliederte sich Kaljonin in einen Trupp Rotarmisten ein, der hinüberzog zum Bahnhof. Er winkte noch ein paarmal zurück, ehe er zwischen den Trümmerbergen verschwand.
Zur gleichen Zeit marschierte auch Major Kubowski mit seinem neuen Bataillon zum >TennisschIäger<, und Assistenzarzt Dr. Körner kehrte mit Knösel aus Pitomnik zurück.
Kapitel 2
Sie nützten wieder den Übergang von der Nacht zum Tag, jene bleiernen Stunden, in denen selbst über der Stadt Stalingrad so etwas wie eine Erschöpfung lag. Nur vereinzelt huschten Leuchtkugeln über den noch dunklen Himmel, fast zählbar tuckerten die sowjetischen Maschinengewehre, und eine einsame Batterie schoß über die Wolga hinüber und erinnerte daran, daß der >Tennis-schläger< noch immer in russischer Hand war.
Dr. Körner hatte den Kopf nach hinten gelegt, auf die harte Kante des Sitzes. Er war müde. Im Offizierskasino von Pitomnik hatte man seine Hochzeit gefeiert. Sogar französischen Sekt hatte es gegeben und drei Büchsen getrüffelte Gänseleber. Als Körner die Köstlichkeiten aß und, trank, mußte er sowohl an Marianne in Köln als auch an seinen Lazarettkeller denken, an die vier vollen Trichter mit Leichen, an die Reihen der Sterbenden und an die Gulaschsuppe, die man verschlang, wenn die Essenträger durchgekommen waren. Er schämte sich fast, Gänseleber zu essen und zu hören, wie der Oberst sagte:»Meine Herren — es wird nicht nur ein militärischer Sieg sein, dem wir entgegengehen, sondern auch ein Sieg der vollendeten rassischen Reinheit! Sehen wir uns doch die Iwans an — sie unterscheiden sich vom Deutschen wie ein Spatz vom Adler…«
Nun döste Körner vor sich hin. Er hatte die Augen geschlossen und träumte sich nach Köln.
Was wird Marianne jetzt tun, dachte er und lächelte. Sie wird vor seinem Bild sitzen und daran denken, wie schön es wäre, die erste Nacht als Ehepaar nicht nur in Gedanken zu erleben. Vielleicht aber saß sie schon wieder im Keller, und über ihr donnerten die Geschwader der englischen Maschinen, rauschten die Bomben in die Häuser und flammten Stadtteile in den Himmel. Vielleicht hatte sie ängstlich die Hände gefaltet und drückte sich in Todesangst an die Kellerwände… sie, die Mutter und der kleine Bruder