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Und doch lebten in dieser tausendfachen Hölle noch Menschen. Sie krochen herum, warfen die Erde von sich wie Maulwürfe, wanden sich durch die Trichter wie Riesenwürmer und sprengten die letzten Geschütze, die noch brauchbar waren. Dann zogen auch sie in die Stadt, eine Handvoll Männer, die sich wie im Paradies vorkamen, als sie sich in einen Keller werfen konnten, auch wenn schon einige Tote darin lagen, steif wie Bretter und eisglitzernd.

In dieser Nacht, in der der Kessel unaufhörlich aufgespalten und das Armee-Oberkommando mitten in die Stadt verlegt wurde, in das Kellergewirr des Kaufhauses Univermag am Roten Platz, hetzte ein einzelner Mann durch die Trümmer, warf sich in die Ruinen, kroch von Trichter zu Trichter, lag zitternd hinter Mauern und robbte über Straßen und Plätze. Er hatte keinen Helm und keine Mütze mehr auf, sein weißes Haar flatterte beim Laufen, um den Hals trug er einen braunkarierten Seidenschal und an den Füßen gute, dicke Filzstiefel. Seine Schulterstücke auf der dreckigen Uniform waren silbergeflochten und mit zwei Sternen versehen. Die deutschen Landser, denen er begegnete, sahen ihn wie ein Gespenst an. Aber ehe sie aus ihrer Verwunderung erwachten, war die Gestalt weitergehetzt, sprang wie ein Hase zick-zack vor den MG-Garben der Sowjets her und verschwand in den Trichtern.

Atemlos, ausgepumpt erreichte er das Kino. Er rutschte die Treppe hinab und fiel dort einem Sanitäter in die Arme, der gerade einen Toten von der Wand zerrte, um Platz für die im Gang liegenden zu machen.

«Wo ist Dr. Portner?«keuchte die Gestalt. Die weißen Haare hingen übers Gesicht… es war schwarz, als habe es im Kohlenstaub gelegen.

«Geradeaus, zweite Tür links, Herr Oberst… Aber ich glaube…«

«Danke…«

Der Oberst hetzte weiter. An der Ecke zum Operationskeller prallte er auf Pfarrer Webern. Dieser hatte eine Stunde geschlafen… nun wollte er seinen Rundgang wiederaufnehmen, das Kreuz in der Hand, um es auf sterbende Lippen zu drücken.

«Oberst von der Haagen — «, sagte Pfarrer Webern erstaunt.»Wo kommen Sie denn her? Sind Sie verwundet?«

«Nein… das heißt, ja. Wo ist Dr. Portner?«

«Dort hinter der Tür. Aber…«

Von der Haagen ließ Pfarrer Webern stehen und riß die Tür zum OP-Keller auf. Dr. Portner und Dr. Sukow sahen nicht auf, nur Dr. Körner, auf dem Strohsack liegend, richtete sich hoch. Oberst von der Haagen schwankte zu ihm und ließ sich neben Körner auf den Strohsack fallen. Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, sein Körper zitterte wie im Schüttelfrost. Es roch nach Brand aus seiner Uniform, nach heißem Öl. Dr. Körner schob sich an der Wand hoch und trat zu Portner.

«Wir haben Besuch bekommen…«, sagte er. Portner drehte den Kopf kurz nach hinten.

«Wer ist denn das? Weiße Haare…«

«Oberst von der Haagen.«

«Was?«Portner übergab seinen Verwundeten einem Sanitäter. Man verband jetzt nur noch die frisch Verletzten mit Fetzen ihrer eigenen Hemden. Dann kamen sie in die anderen Keller, Mann neben Mann, wie Riesenkäse, die man zum Schimmeln ablagert.

Von der Haagen starrte Portner an, als ihn dieser an der Schulter berührte. Dann blickte er zu Körner. Sein Stolz war verbrannt, er war nur mehr ein Häufchen Mensch mit der Seele eines kleinen Hundes, der sich verkriecht in der Hoffnung, in der dunklen Ecke nicht gefunden zu werden.

«Flammenwerfer…«, sagte er fast weinend.»Alles verbrannt… alles… mein ganzes Regiment… in den Kellern, den Unterständen, den MG-Ständen… alles…«

«Und Sie leben?«

Oberst von der Haagen schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Wand.

«Ich… ich bin davongelaufen…«, sagte er kaum hörbar.

«Was sind Sie?«Dr. Portner biß sich auf die Unterlippe.»Sie sind dem glorreichen Endsieg davongelaufen…?«

«Doktor, Sie haben recht, mich in den Hintern zu treten. Aber ich konnte nicht anders… Als ich sie kommen sah, Panzer, die statt zu. schießen, Feuer aus sich herausspritzen, als ich das brennende Öl in die Keller fließen sah, als ich sie schreien hörte… brennend liefen sie durch die Trümmer und wälzten sich im Schnee… da… da bin ich gelaufen… Können Sie das nicht verstehen? Mein Gott, ich habe doch auch nur Nerven… Ich, ich mußte einfach laufen…«

«Und Ihre Soldaten haben Sie allein gelassen…«

«Die brannten doch!«schrie von der Haagen.

«Aber Sie nicht!«

«Sollte ich mich auch verbrennen lassen?!«

Dr. Portner senkte den Kopf.»Wer hat einmal einen jungen Menschen wegen Defätismus zum Tode verurteilen lassen? Wer hat einmal gesagt: Wer auch nur den kleinsten Zweifel an unserem Führer hegt, der ist es nicht mehr wert, zu atmen? Wer hat gesagt: Der Glaube an den Endsieg ist das Fundament unserer Kraft! Wer an diesem Fundament gräbt, muß fallen! Wer war das?!«

«Doktor…«Oberst von der Haagen starrte zu Dr. Körner.»Ich bitte Sie in aller Form um Verzeihung, Herr Assistenzarzt…«

«Verzeihung!«schrie Dr. Portner.»Gäbe es keinen General Gebhardt, läge Dr. Körner jetzt füsiliert irgendwo in Gumrak auf einem Totenhaufen! Und Sie bitten in aller Form um Verzeihung! Was wollen Sie überhaupt hier?«

Oberst von der Haagen richtete sich auf. Er schwankte im Stehen, aber er bemühte sich um eine straffe Haltung. Sein weißes Haar strich er aus dem Gesicht.

«Ich stelle mich unter den Schutz des Roten Kreuzes.«

«Was tun Sie?«fragte Dr. Portner völlig verblüfft.

«Ich bitte Sie, mich als Versprengten aufzunehmen.«

«Hier ist nur Platz für Sterbende. Versprengte lassen sich draußen beim Gefechtsstand ein neues Gewehr geben und legen sich in einen Trichter. Machen Sie es genauso. Kommen Sie wieder, wenn Sie zerfetzt sind!«

«Herr Dr. Portner — «, von der Haagen zitterte wieder.»Ich bin verletzt… meine Nerven… ich bin am Ende meiner Kraft… ich bin völlig zermürbt …«

«Hier ist kein Nervensanatorium für Stabsoffiziere!«brüllte Dr. Portner. Er war hochrot im Gesicht.»Hier wird für den Führer gestorben! Wenn Sie das wollen, bitte… die Fahrkarte dazu bekommen Sie draußen an jeder Ruine!«

Es war plötzlich still im Keller. Die Sanitäter blickten zu der kleinen Gruppe, Dr. Sukow legte seine Hände auf den blutigen Tisch. Oberst von der Haagen schwankte. Dann brach er zusammen und fiel ohnmächtig auf den Strohsack Dr. Körners. Beim Niederfallen schabte er sich die Stirn auf an der rauhen Kellerwand… ein Blutstrom ergoß sich über das Gesicht. Dr. Portner fuhr sich verzweifelt durch die Haare.

«Nun ist er doch verwundet«, sagte er.»Körner, säubern Sie seine Visage, und dann ab mit ihm zum Prominentenkeller — «

So kam es, daß neben dem Ehepaar Kaljonin zwei Obersten Schulter an Schulter an der feuchten Wand lagen. Ein russischer und ein deutscher Oberst. Ein >Held der Nation< und ein großmäuliger Feigling.

Wie hatte von der Haagen damals in Pitomnik gesagt?

«… dann stoßen wir zügig vor durch die Steppe bis zur Mongolei und marschieren in einem großen Bogen nach Wladiwostok…«

Wie eine Welt zusammenschrumpfen kann…

In dieser Nacht jagten zwei struppige Panjegäule über die Steppe. Sie trappelten längs des Tatarenwalls, immer an der herausgerissenen Bahnlinie entlang, deren Holzschwellen man längst verfeuert oder zu Suppenmehl geraspelt hatte. Hinter sich zogen sie eine Feldküche, eine Gulaschkanone. Auf dem Bock saß der Zahlmeister Erich Wrovel. Er hatte Pferde lenken gelernt Er war Großbauer in der Soester Börde, hatte einen Viehhandel dabei und war Pächter der Wirtschaft >Zum Krug<. Das alles hatte ihn dazu prädestiniert, bis zu diesem Tag ein recht beschauliches Leben zu führen mit der Registrierung der Versorgungsgüter, die in Gumrak landeten. Nach einem Verteilerschlüssel buchte er die Nachschubgüter für die einzelnen Divisionen und Regimenter, legte sie schön bereit zum Abholen und wartete. Da aber niemand kam, um den Nachschub abzuholen, er andererseits aber keine Weisung hatte, die Versorgungsgüter den vorbeifahrenden LKWs draufzuwerfen, damit die Verpflegung auf diesem Wege die Truppen erreichte, saß er bald in einem, prallen Lager voll Büchsen und Säcken, Kleidung und sogar Feldpostpäckchen, ärgerte sich über die Laschheit der Landser und stritt sich mit Offizieren herum, die nicht begreifen wollten, daß die Ausgabe von einem Tönnchen Fett ein Verwaltungsakt sei und nicht willkürlich gehandhabt werden könne. Nach der Eroberung von Gumrak verbrannte das pralle Lager des Zahlmeisters Erich Wrovel aus der Soester Börde. Er rettete zwei Panjepferde und eine Feldküche, packte sie voll Mehlsäcke, Butter, Fleischbüchsen und Nudeln und versteckte sich am Stadtrand Stalingrads in den Trümmern eines Straßenbahndepots.