Am 23. Januar, als die Aufspaltung des Kessels begann, erfuhr Wrovel von durchziehenden Versprengten, daß auf dem Notflugplatz Stalingradski ein paar Jus gelandet seien und sogar Verwundete mitgenommen hätten. Das war eine Freudenbotschaft, die der Zahlmeister sofort in die Tat umsetzte. Er kochte mit den Nudeln, den Rindfleischbüchsen, den Suppenwürfeln und dem Mehl eine dicke Suppe, die ganze Gulaschkanone voll, bis oben an den Rand, drückte den Deckel zu, spannte seine beiden Panje-gäule in die Deichsel und jagte los, nach Westen, wieder den Tatarenwall entlang, ab nach Stalingradski. Wenn ich auch drei oder vier oder fünf Tage warten muß, dachte sich der Zahlmeister Wrovel aus der Soester Börde, verhungern werde ich nicht. Ich habe meine Feldküche randvoll mit heißer Suppe.
So trabte er dahin, in zwei Decken vermummt und einen dicken Wollschal um den Kopf gebunden. Bis er die Panzer sah… vier dunkle Ungeheuer, die plötzlich aus dem Schneenebel auftauchten und direkt auf ihn zurollten. T 34 — Wrovel kannte sie von Gumrak her. Sie ratterten quer durch die Steppe, aus den Luken sahen die pelzbesetzten Ledermützen der Panzerfahrer.
Zahlmeister Wrovel warf seine Pferdchen herum und jagte zurück nach Stalingrad. Das war ein Fehler, denn dadurch wurde man aufmerksam auf ihn. Wäre er weiter geradeaus gefahren, keiner hätte ihn aufgehalten. Was bedeutete ein einzelner Mensch mit zwei Gäulen? Und da er sowieso nach Westen fuhr, in die sowjetischen Linien hinein, war es Verschwendung, auf ihn zu schießen.
So aber schwenkten die langen Rohre der Panzer herum, die Köpfe verschwanden in den Luken, die Motoren brüllten auf…
und dann knallte es aus dem vorderen Ungeheuer, pfiff es über den Zahlmeister Wrovel hinweg und schlug seitlich von ihm ins Eis. Die Panjepferde streckten die Hälse und rasten davon. Die Feldküche schleuderte über Eisbuckel und Schneewehen, Wrovel klammerte sich an seinem Sitz fest, hinter sich hörte er die Abschüsse, das Röhren in der Luft und die spritzenden Einschläge der Granaten.
Es war ein Zielschießen, weiter nichts. Der fünfte Schuß riß den Pferden die Leiber auf… sie rannten noch ein paar Meter, dann stürzten sie hin, und Zahlmeister Wrovel wurde nach vorn über die blutenden Leiber geschleudert, die Feldküche folgte ihm und rollte über das Knäuel aus Tier und Mensch.
Der sechste Schuß war ein Volltreffer… er ließ den Kessel bersten. Zweihundert Liter heiße Suppe aus Nudeln, Rindfleisch, Brühwürfeln und Mehl ergossen sich wie eine Flutwelle über den Zahlmeister Wrovel.
«Hilfe!«brüllte er, als über ihm der Kessel zerplatzte. Er wollte wegkriechen, aber über ihm lag der Schenkel eines Pferdes und hielt ihn fest wie in einem Schraubstock. Er krallte sich in das Fell, er riß und drückte…»Hilfe!«brüllte er wieder.»Hilfe!«… Aus dem Kessel schoß die glühende Suppe… eine Woge aus Nudeln und Fleisch.
Ein paar Sekunden später war der Zahlmeister Erich Wrovel aus der Soester Börde ertrunken und erstickt. Seine Nudelsuppe lag über ihm und den noch immer zuckenden Pferdeleibern… sie dampfte in der Luft von 40 Grad Kälte. Es roch nach Maggi und Rindfleisch.
Aus dem vorderen Panzer tauchte ein Kopf auf. Ein lachendes Gesicht, eng umschlossen von der Lederkappe.
«Karascho!«rief er.»Dawai! Dawai — «
Die Panzer rollten weiter, nach Stalingrad hinein.
Die schöne Nudelsuppe vereiste.
In dieser Nacht erhielt Dr. Portner den Anruf des Flugplatzkommandanten von Stalingradski, daß für morgen sechs Jus angesagt seien, die Verbandsmaterial und Medikamente, sowie Munition und Büchsenverpflegung einfliegen würden. Es bestände die Möglichkeit, mit diesen Jus 240 Verwundete auszufliegen. Er riefe im Auftrag von General Gebhardt an. Die 240 Verwundeten sollten eine Entschädigung für eine >Kiste mit 9000mal Unsinn< sein.
«Verstehen Sie das, Herr Stabsarzt?«fragte der Luftwaffenhauptmann.
«Aufs Wort.«
«Sie schicken die 240 Mann?«
«Sie werden in einer halben Stunde in Marsch gesetzt.«
«Ich halte die Maschinen dafür frei, wie befohlen.«
«Meinen ergebensten Dank. Empfehlung und Handkuß an die Frau Gemahlin. «Dr. Portner legte auf. Sein Gesicht war zerfurcht und gelbweiß. Dr. Körner sah ihn erschrocken an.
«Was ist, Herr Stabsarzt?«
«Man hat mich zum Totenrichter gemacht«, sagte er leise.»Ich soll 240 Mann auswählen, die man ausfliegen will. 240 von 3500! Wen soll ich nehmen? Alle haben das Leben verdient…«
Er wandte sich ab und legte die Hand über die Augen. Dr. Körner verließ den Funkraum. Er wußte, Dr. Portner mußte jetzt allein sein. Es war niemand da, der ihm helfen konnte, der ihm die Verantwortung abnahm.
Eine halbe Stunde später begann die Zusammenstellung des Transportes. Den Sanitätern war strengste Schweigepflicht befohlen worden. Wenn die 3500 Verwundeten erfahren hätten, wozu einige aus ihren Reihen herausgeholt wurden, hätte es eine Panik gegeben, einen Kampf um das Leben mit einer Grausamkeit, die alle Grenzen des Menschlichen sprengte. Einer hätte den anderen umgebracht, um sich einen Platz zu erobern, man hätte sich gegenseitig zerfleischt für die winzige Chance, aus Stalingrad hinauszukommen. So aber sah keiner hin, wenn Dr. Körner und die Unterärzte, Dr. Portner und die Sanis und sogar Dr. Sukow von Keller zu Keller gingen, von Leib zu Leib.
Es war sinnlos, die auszufliegen, die auch in einem normalen Lazarett bei bester Versorgung keine Chance des Überlebens mehr hatten. Die aufgetriebenen Körper, die Wundbrände, die lebend Verfaulenden blieben an den Wänden und auf den Gängen liegen, ebenso die Kopfschüsse, die Wahnsinnigen, die in einem eigenen, immer verschlossenen Keller hausten, wie wilde Tiere, brüllend und wimmernd, im Wahn singend oder herumhockend in der Apathie völliger Verblödung. Frisch Amputierte, große Fleischwunden, ein paar mittelschwere Bauchschüsse, Erfrierungen, Flecktyphuskranke, Schußbrüche und glatte Durchschüsse wurden ausgesondert. Sie wußten nicht, warum… sie wurden, wenn sie nicht gehfähig waren, die Treppe hinaufgetragen und oben in den Trümmern abgestellt. Einige wehrten sich, brüllten, schlugen um sich…»Umbringen wollt ihr uns, ihr Schweine!«schrie jemand.»In der Kälte krepieren sollen wir! Warum schlagt ihr uns nicht gleich tot? Ihr Lumpen! Ihr Verbrecher!«Pfarrer Webern und Pastor Sanders beruhigten sie. Aber selbst ihnen wurde nicht mehr geglaubt.»Warum trägt man uns ’raus?!«wurden sie immer wieder gefragt. Sie durften die Antwort nicht sagen, sie redeten um die Wahrheit herum. Die Verwundeten merkten es, mit dem Instinkt von gehetzten Tieren spürten sie, daß man ihnen etwas verbarg.
«Ach, seien Sie still, Herr Pastor — «, sagte einer für alle zu Pastor Sanders,»auch Sie belügen uns! Immer sind wir belogen worden! Aber bei Ihnen wird das etwas anderes sein… da heißt es eine fromme, barmherzige Lüge! Wir pfeifen darauf…«