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Knösel war um den Bruchteil einer Sekunde schneller. Während Dr. Körner starr, ohne Möglichkeit zu helfen als nur zu brüllen, an der Unterstandwand lehnte, waffenlos und mit schwankenden Knien, hatte Knösel in die Tasche gegriffen und eine russische Pistole herausgerissen. Kaljonin hatte sie ihm gegeben mit den Worten:»Wirf sie weg, Briederchen.«

Die beiden Schüsse bellten fast zur gleichen Zeit. Aber Knösels Schuß war ein Hauch eher… die Kugel traf Rottmann in den Rücken, er warf die Arme hoch und sackte in den Knien weg. Der Schuß aus seinem Gewehr pfiff an Olga Pannarewskaja vorbei… sie hörte es nicht, sie lief… lief vor der Feuerwand her, mit den Armen rudernd, als wolle sie winken: Schießt nicht! Schießt nicht!

Die Erstarrung löste sich von Dr. Körner. Während Knösel neben Rottmann kniete, sprang er aus der Deckung und breitete die Arme aus.

«Olga!«schrie er.»Olga!!«

Sie sah ihn und erkannte ihn. Über ihr Gesicht flog trotz der Anstrengung und der letzten Kraft, die sie in sich aufriß, ein Leuchten… sie schnellte vorwärts, breitete die Arme aus und fiel Dr. Körner an die Brust. Umschlungen fielen sie in den Unterstand zurück und rollten bis an die Schießscharten.

«Olga…«, stammelte Dr. Körner.»Olga… du bist da. Du bist zurückgekommen…«

«Moi ljublimez…«(Mein Liebling), sagte sie.»Du leben… du leben «

Olga Pannarewskaja lehnte sich an den Erdwall. An den Gürtel ihrer Uniform hatte sie sechs lederne Taschen geschnallt.

Sechs Taschen mit Sanitätsmaterial.

Verbände, Morphium, Medikamente, Seide, Catgut.

«Du leben…«, sagte sie noch einmal, lehnte den Kopf an Körners Brust und begann vor Glück zu weinen.

Die Feuerwand wanderte langsam auf sie zu…

Knösel hatte mit einem Messer die Uniform Rottmanns am Rücken aufgeschlitzt und drückte ein ganzes Verbandpäckchen auf den kaum blutenden Einschuß. Dr. Körner beugte sich zu ihm vor; er preßte die Pannarewskaja noch immer an sich.

«Tödlich, Knösel?«fragte er besorgt.

«Nee, aba wat heeßt hier noch tödlich?«

«Woher haben Sie denn noch das Verbandpäckchen? So was kenne ich seit sechs Wochen nicht mehr…«

Knösel rieb sich die Nase und sah sehr verlegen aus.

«Det war meine stille, eiserne Reserve… wenn mir so’n Ding erwischt, hab’ ick mir jedacht, dann haste imma noch’n Päckchen und gehst nich jleich vor de Hunde…«

«Und jetzt?«

Knösel hob die Schultern. Rottmann röchelte und zuckte.»Nu ist doch alles wurscht, Herr Assistenzarzt. Mehr als Scheiße kanns nich vom Himmel regnen…«

Die Feuerwand wanderte weiter, seitlich an ihnen vorbei, zu den Bereitstellungen der deutschen Regimenter und den wenigen Befehlsständen. Auch auf dem Kino lag eine Minute lang das konzentrierte Feuer der sowjetischen Artillerie… der Rest der Ruine stürzte ein, verlor die letzte Form eines Hauses und wurde zu einem dampfenden, staubenden Stein- und Mörtelberg. Knösel preßte das Gesicht gegen den Kolben seines MGs.

«Die verschütten den ganzen Eingang«, stammelte er.»Und wat noch alles auf der Treppe liegt… lieber Jott, laß Abend wer den…«

Die Verwundeten vor ihnen, um derentwillen sie hinausgegangen waren, um sie hinüber in den Kinokeller zu holen, schwiegen. Die Feuerwalze hatte sie niedergepflügt. Wo einmal der Bunker war, gähnte jetzt ein Trichterfeld. Nicht einmal ein Fetzchen Uniform würde man dort noch finden.

Als die Einschläge der Artilleriesalven weitergewandert waren, richtete sich Olga Pannarewskaja auf und strich die langen schwarzen Haare zurück. Ihr schönes, eurasisches Gesicht war mit Lehmdreck und Eis überzogen.

«Gehen wir!«sagte sie.

«Gehen ist gut!«Knösel zeigte mit dem Daumen in die Ruinenwüste.»Da sitzen deine Genossen und warten nur darauf, dat ick die Birne hochhebe!«

«Keine Angst. «Die Pannarewskaja schnallte den Verschluß einer ihrer Taschen auf und zog eine Fahne heraus. Knösel drehte die Augen nach oben.

«Noch ’n Tuch! Det is der reinste Textilkrieg…«

Olga Pannarewskaja kroch aus dem Unterstand und stellte sich aufrecht. Im gleichen Augenblick hämmerte ein MG… es verstummte aber ebenso plötzlich, als die Pannarewskaja ihre Fahne entfaltete und schwenkte. Ein rotes Tuch mit einem leuchtenden, fast phosphoreszierenden Kreuz. Die Ärztin winkte zurück in den Unterstand.

«Mitkommen.«

«Det is mir ’ne zu kitzelige Sache. «Knösel blieb bei dem besinnungslosen Rottmann sitzen.»Ick trau dem Braten nich… der riecht…«

«Quatsch, Knösel!«Dr. Körner faßte Rottmann unter die Arme.»Nehmen Sie die Beine…«Als wenn sie mich verraten könnte, dachte er. Sie ist zurückgekommen, sie lebt, sie ist bei mir… und wenn es vielleicht nur Stunden sind, die uns bleiben… es stirbt sich in dieser Art von Glück leichter als in der hilflosen Verzweiflung.

Sie schleppten Rottmann aus dem Unterstand und standen neben Olga aufrecht in den Trümmern. Es war nicht allein die Kälte, die Knösel Schauer über den Rücken jagte… er sah sich scheu um und wußte, daß ihn in dieser Riesenwüste aus Stein und Beton jetzt viele Augen anstarrten, erstaunt, daß eine sowjetische Kapitänärztin für einige Minuten den Krieg einstellte, um drei Deutsche sicher wegzubringen. Für Knösel waren diese Minuten schrecklicher als alle überlebten Trommelfeuer. Das Undenkbare, aufrecht vor den Russen herzugehen, war für ihn wie ein Märchen. Es war eigentlich die Nummer 3 in Knösels Erlebnisalbum, das ihm nicht geglaubt werden würde, wenn er es erzählte… erst das küssende Liebespaar in den Trümmern, dann der Elefant und jetzt ein Spaziergang quer an den Mündungen sowjetischer MPs und Granatwerfer vorbei, ohne daß ein einziger Laut ihn störte. Die Pannarewskaja ging ihnen voraus, die rote Fahne mit dem grünen Kreuz hochhaltend, wie bei einem Umzug am 1. Mai oder am Oktobertag der Revolution.

So erreichten sie das ehemalige Kino. Eine zerborstene Hauswand schützte sie jetzt vor Feindeinsicht. Olga ließ die Fahne sinken. In den umgewühlten Trümmern arbeiteten verdreckte, schwankende, stumme Gestalten mit totenkopfähnlichen Gesichtern, schoben Steine weg, wälzten Betonstücke zur Seite, stemmten sich gegen armierte Decken und Eisenträger.

Der Kellereingang zum Feldlazarett III war verschüttet worden, wie Knösel es geahnt hatte. Von unten arbeiteten sie sich mit der gleichen stummen Verbissenheit vor wie die Oberlebenden oben in den Kinotrümmern. Daß sie die Feuerwalze überlebt hatten, verdankten sie den Toten. Als die Wand aus Flammen und Stahl auf sie zukam, krochen sie in die berühmten Grabtrichter Dr. Port-ners. Es waren mittlerweile zwölf Stück geworden, große Granatlöcher, in denen die steifgefrorenen Toten schichtweise übereinander lagen, wie gestapelte Bretter, mit offenen Mündern, bleckenden Zähnen, hochgereckten Armstümpfen, aufgeplatzten Bäuchen… alles im Eis konserviert, Blöcke mit bizarren, teuflischen Ornamenten. Noch im Tode waren sie nützlich… die Männer oben in den Kinoruinen wühlten sich zwischen die Toten, schoben die Eisbretter mit den Menschengesichtern über sich, krochen wie Küchenschaben in die Ritzen zwischen den Leibern, bauten sich Schutzdächer aus steinhartem, zerfetztem Gefrierfleisch. So überdauerten sie die Feuerwalze, die Splitter hieben singend in die Eisgestalten, sprangen ab, sirrten als Querschläger in die Steine. Dann war die Hölle vorbeigezogen, der Kellereingang verschüttet, und ohne Befehl, weil es selbstverständlich war, begannen die lebenden Leichname, den Keller wieder freizulegen.

Unten im Labyrinth der Kellerräume nahm man die Verschüttung kaum wahr. An das Beben der Erde, an Detonationen, an das Schwanken der Wände hatte man sich längst gewöhnt. Daß es in diesen Minuten etwas lauter krachte… wen kümmerte es noch? Hier lagen über 3500 Sterbende, Fiebernde, Wimmernde und Apathische, starrten gegen die Decke und dachten an nichts mehr als an das, was ihnen von einem hoffnungsreichen Leben geblieben war: Wie das Bein brennt… wie der Kopf hämmert… mein Leib, oh, mein Leib… Ich kriege keine Luft mehr, Luft, Luft… Ich verblute, Kinder, ich verblute… Mutter, Mutter…