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Wie klein ist dagegen ein Krach an der Decke und eine Wolke von Staub, die kurz darauf durch die ersten vorderen Kellerräume quoll. Dr. Portner und Dr. Sukow erkannten die Lage. Ihre Gesichter waren eingefallen und blaß, sie hatten seit vier Tagen an jedem Abend nur eine Scheibe Brot gegessen, altes, hartes Brot, das sie sich in heißem Schneewasser aufweichten. Es quoll dadurch um das Doppelte auf, sah voluminös aus, und da die Augen mitaßen, stellte sich für eine Stunde das Gefühl der Sättigung ein. Aber dann war der Selbstbetrug vorüber, und die Körper fingen wieder an, sich selbst aufzuzehren.

Wie viele Tote es in den vergangenen Wochen durch das >Herz der 6. Armee< gegeben hatte, wurde nicht mehr gezählt und berichtet. Man kannte den Grund, wenn die Männer in ihren Löchern einfach umkippten und starben, ja, man beneidete sie jetzt sogar um diesen schönen Tod, der ohne Schmerzen kam, ohne zerfetzte Leiber, ohne langes Dahinfiebern, ohne Eiter, ohne Wundbrand, ohne das Entsetzen des langsamen Verfaulens. Das Herz der 6. Armee wurde zum Wunschtod… und doch waren es nur stille, heimliche Gedanken, denn so kraftlos die Körper waren, so verhungert und erfroren, eingekreist von Feinden, die jede Stunde Meter um Meter der Stadt zurückeroberten, in diesen kaum noch menschlichen, vermummten, eisbehangenen Leibern flackerte noch immer ein Funken von Lebenswillen. Er zwang sie an die Gewehre, bis die letzte Patrone aus dem Lauf gefeuert war… dann drehten sie das Gewehr um, umklammerten den Lauf und hieben mit den Kolben auf die Schädel der Rotarmisten. Sie fragten nicht mehr: Warum? Sie kümmerten sich nicht mehr darum, daß alles so sinnlos war, jeder Schuß, jeder gerettete Tag, jede verschossene Stunde… sie konnten nicht mehr denken, sie waren Wesen aus Muskeln, Sehnen und einer nervlichen Befehlszentrale, und diese

Zentrale jagte durch sie den Befehclass="underline" Du willst leben! Leben! Weiterleben! Und nach dem alten, mit dem Verstand nicht begreifbaren Naturgesetz heißt Überleben soviel wie Kampf. Also kämpften sie, mit blinden Augen, mit leeren Hirnen, mit geschrumpften Mägen, kämpften um das nackte Leben, das Weiteratmen. Später würde man sagen, sie waren Helden… sie können sich dagegen nicht mehr wehren, und die Nachwelt lebt seit jeher vom geschichtlichen Betrug! Wenn es jemals eine verzweifelte Kreatur gegeben hat, dann waren es die 135 000 deutschen Männer, die vom 26. Januar 1043 ab in drei aufgespaltenen Kesseln den wahren Sinn der Worte erlebten: Es ist so schön, Soldat zu sein…

Dr. Portner war der erste, der wieder sprach, nachdem sich die Staubwolke verzogen hatte.»Verschüttet — «, sagte er leise. Dr. Sukow nickte.»So sparen wir Gräber…«»Sie sind von einem beneidenswerten, praktischen Sinn. «Dr. Portner lehnte sich an die Kellerwand.»Sind Sie schon mal erstickt?«

«Njet. Sie?«Sukow lächelte verzerrt.

«Fast. Im Ersten Weltkrieg. Vor Verdun. Im Chaume-Wald. Ich saß in einem Balkenunterstand, und eine 10,5-Granate hieb mitten drauf. Zwei Tage lag ich eingeklemmt unter der Erde, in einer sogenannten Luftblase. Dann fand man mich. Ich habe drei Monate nicht sprechen können und konnte in keinem dunklen Zimmer mehr schlafen. Wenn es Nacht wurde, saß ich unter zwei Lampen und mußte ins Licht starren. Ich konnte nichts Dunkles mehr sehen…«Dr. Portner schloß die Augen. Müde bin ich, dachte er. Müde, daß ich umfallen möchte und sterben. Wie schön kann sterben sein, ich hätte das nie gedacht.»Aber damals war ich allein…«Seine Stimme schwankte.»Heute habe ich 3500 Männer um mich…«

In den OP-Keller stürmte Oberst von der Haagen. Er sah wie ein Irrer aus, unter den zerwühlten weißen Haaren quollen die Augen aus den Höhlen.

«Wir sind verschüttet!«schrie er grell.»Doktor! Wir werden ersticken! Ersticken! Wir alle werden…«Er taumelte an die Wand, weil Dr. Sukow ihn mit einer Handbewegung von der Tür schleuderte und sie zutrat.

«Wollen Sie Panik?«rief er dabei. Von der Haagen ballte die Fäuste.

«Sie wagen es, als Russe mich anzureden?!«brüllte er.»Sie fassen mich an?! Noch sind Sie nicht der Sieger! Noch gehört Stalingrad uns! Herr Stabsarzt Portner… wenn wir hier alle ersticken, sind Sie allein der Verantwortliche! Sie haben für keine Notausgänge gesorgt, Sie haben uns alle in eine Mausefalle gesteckt…«

«Verstehen Sie jetzt, Kollege, warum der Deutsche in der Welt so >beliebt< ist?!«fragte Dr. Portner ruhig Dr. Sukow.»Begreifen Sie nun auch, was aus der Welt werden würde, wenn wir den Krieg gewännen?! Glauben Sie nicht, dieser Oberst da…«, und plötzlich brüllte er»…. dieser Scheißkerl da, dieses feige Schwein mit der Schnauze eines Bullen und dem Hirn eines Frosches, steht allein da! Davon gibt es genug bei uns…davon hat es genug gegeben und wird es auch wieder genug geben, denn das, was man echtes Preußentum nennt, stirbt nicht aus!«

«Es gibt auch andere…«, sagte Dr. Sukow tadelnd.

«Stimmt! Ich kenne ein paar. General Gebhardt etwa. Aber das waren immer die Außenseiter, die im Offizierskorps hinterrücks belächelt wurden als Schleimscheißer und Stiefelwichser. Die da«, er zeigte mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf den bebenden Oberst von der Haagen,»diese Hurrasoldaten, die entweder im Hinterland von der Eroberung Wladiwostoks träumen — nicht wahr, Herr Oberst? — oder als Kommandeure ihrer Divisionen in einem Wettrennen um Ritterkreuz, Eichenlaub, Eichenlaub mit Schwertern und so weiter stehen und nicht sehen, daß ihre Dekorationen mit Blut gefärbt sind, diese >Helden< werden immer bestimmend sein, gestern, heute, jetzt und morgen genauso wie übermorgen. Ob wir es noch erleben, Kollege Sukow… ich weiß es nicht, ich glaube es auch nicht. Mich dauert nur die kommende Generation, die diesen Herren genauso blind ausgeliefert wird, wie wir ihnen ausgeliefert worden sind! Ich könnte jetzt schon um die Jungen weinen, denen man später einmal mit vaterländischem Ergriffenheitstimbre in der Stimme von den Helden von Stalingrad erzählen wird, aber nicht von dem elenden Verrecken und lebendigen Verfaulen… Sie werden mit heißen Backen — wie wir von 70/71 oder die da draußen, die sich gerade im Eiter auflösen, von Langemarck, Verdun, Cambrais — von dem Kampf bis zur letzten Patrone hören, vom letzten Gotenkampf der Deutschen, vom leuchtenden Beispiel eines Mannestums, aber nicht von dem Verrat an 330 000 Männern, von der Lüge und dem Untergang. Das wird man ihnen alles verschweigen, denn das paßt nicht in das heroische Bild des Deutschen. Ein deutscher Soldat stirbt mit Hurra oder einem Blick auf das Führerbild… aber er krepiert nicht, er kriecht nicht die Wände entlang und leckt sie ab, weil seine Gedärme brennen, Gedärme, die ihm aus dem Bauch hängen, die er hinter sich herschleift, und keiner kann ihm helfen, weil es keine Verbände mehr gibt, keine Betäubungsmittel, nichts mehr. Wenn ich wüßte, daß wir hier sterben, um der kommenden Jugend zu zeigen: So ist es! um ihnen ein Schreckensbild zu sein, das ihnen immer wieder zuruft, Tag um Tag: Nie wieder… dann würde ich, verdammt noch mal, auch ein Held werden. Aber ich weiß, daß man die kommende Jugend genau wie uns damals auch belügen wird und daß man dem, der die Wahrheit hinausschreit, auf das Maul schlägt.«

Oberst von der Haagen verließ wortlos den OP-Keller. Dr. Portner sah ihm nach und faßte Dr. Sukow am Arm.

«Wissen Sie, was er tun würde, wenn er so könnte, wie er jetzt wollte?«

«Njet — «

«Er würde mich erschießen lassen.«

«Bei uns auch…«, sagte Dr. Sukow ruhig. Dr. Portner starrte ihn groß an.

«Ich weiß…«

«Sähen Sie, und darum sind wir Brieder…«

«Und schießen doch aufeinander.«

«Ein Schwein versteht nie, warum es gemästet wird. Es frißt und grunzt und ist glücklich. Es wundert sich selbst nicht, wenn es nachher geschlachtet wird…«