Dr. Portner legte den Arm um die Schulter Dr. Sukows.
«Andreij Wassilijewitsch«, sagte er heiser vor innerer Bewegung,»wenn wir beide Stalingrad überleben, sollten wir ewige Freunde sein.«
«Wir sind es, moi drug (mein Freund). «Er wandte sich ab und putzte sich die Nase. Die Luft war trocken und staubig und legte sich auf die Schleimhäute. Nur darum putzte sich Chefchirurg Dr. Sukow, Major der Roten Armee, die Nase…
Die erste, die die Kellertreppe herabkam und sich durch das Geröll kämpfte, war Olga Pannarewskaja. Auf halber Höhe stand Dr. Sukow und half mit, große Trümmerstücke wegzurollen. Als er die Ärztin sah, streckte er ihr beide Hände entgegen und half ihr über eine Steinbarriere auf den unteren Treppenabschnitt.
«Willkommen, Genossin«, sagte er freudig.»Ist alles in Ordnung?«
«Alles, Genosse Major.«
Sukow sah auf die Taschen, die die Pannarewskaja um den Leib geschnallt hatte.
«Alles dabei?«
«Alles. Ich mußte erst zum Hauptdepot, darum dauerte es drei Tage länger.«
«Was gibt es sonst?«
«Vieles und nichts, Genosse Major. Unsere Verluste sind schwer, aber es ist bald zu Ende in Stalingrad. Sie werden morgen mit zweihundert Salvengeschützen und Raketen die deutschen Stellungen beschießen. Nur ein paar Tage noch…«
Dr. Portner kam ihnen entgegen. Er blieb wie vor den Kopf geschlagen stehen, als er die Pannarewskaja erkannte.
«Das ist doch nicht möglich…«, sagte er ungläubig.
«Ich habe alles bei mir. «Die sowjetische Ärztin schlug gegen die Ledertaschen an ihrem Gürtel.»Alles, was wir brauchen. Vor allem Morphium und eine Fahne, die uns schützt — «
«Morphium…«Portner wischte sich über die Augen.»Wo… wo waren Sie denn?«
«Im Sanitätsdepot. «Sie lachte ihn an, als sei dies das Selbstverständlichste gewesen. Portner wandte sich zu Dr. Sukow.
«Sie haben das gewußt…«
«Ja.«
«Darum Ihre Ruhe!«
«Ja.«
«Ich… ich danke Ihnen…«
Dr. Sukow drückte das Kinn an die Brust.»Warum? Wofür? Es werden auch viele verwundete sowjetische Genossen in den Keller kommen… für sie hat Genossin Pannarewskaja die Medikamente geholt.«
«Natürlich. «Dr. Portner schwieg. Er wußte, daß es eine Lüge war, ein Selbstbetrug, der Sukows sowjetisch-ideologisches Gewissen beruhigen sollte.
Zuerst wurde Emil Rottmann behandelt… er kam in den Nutzen der ersten Anästhesie nach vier Wochen, er bekam einen Wundpuderverband, nachdem Dr. Sukow ihm die Kugel aus dem
Rückenmuskel herausgeschnitten hatte. Er lag da wie ein 1.-Klasse-Patient, mit einer sauberen Kompresse, mit weißen Mullbinden, schmerzlos, ohne Gefahr, in ein paar Tagen sich im Wundbrand wälzen und tierisch brüllen zu müssen.
Voll Erstaunen erkannte die Pannarewskaja den Mladschij Sergeanten Kaljonin in der deutschen Uniform.
«Bitte, bitte schweigen Sie, Genossin Kapitän«, bettelte Iwan Iwanowitsch.»Der Krieg ist ja bald zu Ende. Ich weiß, es ist nicht ehrenvoll, was ich tue… aber es kam einfach über mich, und als ich anfing, darüber nachzudenken, war es schon zu spät. «Er schwindelte ein wenig, der gute Kaljonin, er gab sich als Opfer einer plötzlichen Idee, eines Affektes der Liebe und Sehnsucht. Daß er tagelang durch die Trümmer Stalingrads geirrt war und nach Vera gesucht hatte, verschwieg er.
«Und man hat dich noch nicht entdeckt?«
«Nein. «Kaljonin grinste verlegen.»Man hält mich hier für einen Oberschlesier.«
«Dann sitz nicht hier herum, sondern hilf!«Die Pannarewskaja winkte zu Vera, die auf ihrem Strohlager hockte.»Und du auch! Bring den Verwundeten Wasser…«
«Den Deutschen?«
«Sind es keine Menschen, he?«
«Doch, Genossin, aber Stalin sagte «
«Wo ist Stalin? Liegt er hier mit im Keller?!«Die Pannarewskaja war wütend. Kaljonin verdrückte sich, er kannte etwas davon, wenn Olga den Kopf in den Nacken warf.»Haben sie dich nicht verbunden, he? Haben sie dir kein Lager gegeben, die Deutschen? Lebst du denn nicht?!«
Mit gesenktem Kopf schlich auch Vera Kaijonina hinaus. Wenig später kniete sie neben den zerfetzten Leibern und legte feuchte Tücher auf die heißen, fiebernden Stirnen, benetzte die aufgesprungenen Lippen mit in Schneewasser getauchten Fingern oder hielt den Kopf eines Sterbenden, der mit großen Augen aus der Welt ging, nicht begreifend, daß eine Frau ihn umfangen hielt.
Oberst von der Haagen ergab sich seinem Schicksal. Nach den Tobsuchtsausbrüchen wurde er ganz still, saß an der feuchten, zitternden Kellerwand und starrte in das winzige, flackernde Hinden-burglicht. Er aß eine Wassersuppe und einen angeschimmelten Zwieback. Ein paarmal sprach ihn Dr. Portner an… es war, als spräche er zu einer Wachspuppe. Von der Haagen rührte sich nicht, sah an Dr. Portner vorbei, mit ausdruckslosen, trüben Augen. Nach der Auseinandersetzung im OP-Keller hatte es in ihm einen Riß gegeben. Es war, als erkenne er einen ganz neuen Menschen, als er in sich schaute, und dieser Mensch sagte: Stalingrad ist auch deine Schuld! Erkenne es endlich… Das war so ungeheuerlich, daß von der Haagen wie gelähmt war. Er sprach nicht mehr, er rührte sich nicht mehr… nur zur Verrichtung seiner Notdurft stieg er die Kellertreppe hinauf. Schritt um Schritt, wie eine in Gang gesetzte Maschine, kehrte zurück, hockte sich an die Wand und schwieg weiter in selbstverzehrender Dumpfheit.
An diesem Nachmittag wurden über den Trümmern der Stadt Stalingrad zwei Tonnen Verpflegung und Munition abgeworfen. Der Notflugplatz Stalingradski war schon am 23. Januar aufgegeben worden.. nun kreisten einsame Flugzeuge über der Stadt und warfen dort ihre Nachschubbomben ab, wo man winkte oder anhand der letzten Lagemeldung noch deutsche Bunker vermutet wurden.
Knösels Markierungstuch war wieder ein Magnet. Zweimal landeten deutsche Nachschubbomben auf dem Fabrikhof… einmal waren es Schinken in Büchsen und Hartbrot in Zellophanbeuteln… die andere Bombe enthielt Schweinskopfsülze, Erbsen und Bohnen, Kekse und gepreßten Tee.
Das große Verteilen begann. Knösel zählte ab… pro Mann zehn Erbsen, neun weiße Bohnen, drei Kekse, eine Scheibe Brot (und dieses nur für die Verwundeten, bei denen Hoffnung auf Rettung bestand), ein winziges Würfelchen Sülze, ein Hauch von gekochtem Schinken… und doch war es wie ein Feiertag, als aus jedem Keller drei Essenholer an Knösel vorbeizogen una die Verpflegung in Empfang nahmen.
«Verderbt euch nich de Wampe!«sagte Knösel, wenn er sich die Portionen quittieren ließ.»Zu üppiges Fressen bringt dumme Jedanken.«
Die beiden Verpflegungsbomben reichten für eine Tagesration. Für einen Tag Gefühl, etwas im Magen zu haben, für einen Tag den Geschmack von Sülze und gekochtem Schinken. Man hielt die winzigen Stückchen so lange im Mund, wie es ging, man lutschte die Sülze auf und zerkaute die in Schneewasser weichgekochten Erbsen und Bohnen wie köstliche Marzipankugeln.
Dann war der Vorrat ausgegeben, Knösel saß vor seinem leeren Verpflegungskeller und grübelte. Mitte Dezember, dachte er.
Junge, Mitte Dezember hatte er doch ein Pferd geschlachtet! Eine Hüfte hatte er damals mitgenommen. Die anderen Teile hatte er vergraben, gewissermaßen in einen Eisschrank gelegt… ein Eisloch mit Steinen darüber. Irgendwo da draußen lagen noch über hundert Pfund bestes Gefrierfleisch!
Knösel wurde von einer ungeheuren Lebendigkeit befallen. Er holte Kaljonin aus dem Keller und ging mit ihm nach oben ins Freie.
«Paß mal uff«, sagte er und versuchte, sich zu erinnern, wo er seinen Eisschrank angelegt hatte.»Ick habe noch ’n Gaul in der Hinterhand. Vastehste?«
«Njet!«sagte Kaljonin ratlos.
«Ein Pferd! Panje-Konij…«
«Ah!«Kaljonins Augen glänzten.»Wo?«
«Wenn ick det noch wüßte. «Knösel sah in die unendlich scheinende Trümmerwüste. Im Norden und im Süden standen hohe Rauchwolken gegen den graublauen Himmel. Es war ein Wunder, daß es in dieser toten Stadt noch etwas gab, was brennen konnte.»Da war ein Turm in der Nähe…«