«Meine Herren«, sagte er mit merkwürdig spröder Stimme,»ich weiß nicht, ob ich dazu berechtigt bin, aber die Lage, in der wir uns befinden, zwingt mich zu logischen Folgerungen.«
Das klang ironisch, wie eine Selbstzüchtigung. Die Offiziere, die General Gebhardt im Halbkreis umstanden, sahen ihren Kommandeur aus eingesunkenen Augen an.
«Ich entbinde Sie hiermit von dem Eid, den Sie einmal für Führer und Volk geleistet haben. Ich gebe Ihnen völlige Handlungsfreiheit. Sie stehen nicht mehr unter meinem Befehl. Sie können durchbrechen. Sie können sich in russische Gefangenschaft begeben. Sie können sich erschießen. Es wird Ihnen überlassen. Man hat uns verraten, das wissen wir jetzt. Nun sollte sich jeder der nächste sein. Ich danke Ihnen, meine Herren, für Ihre bis zur Hölle gehaltene Treue und Kameradschaft. «General Gebhardt legte die Hand an seine Mütze.»Gott mit Ihnen, meine Kameraden!«
Die Offiziere grüßten zurück. Vor ihrem Keller ratterten die Ketten der sowjetischen Panzer. Ein paarmal krachte es. Das Wunder des Widerstands erneuerte sich wieder… die Toten erhoben sich und schossen noch einmal, ehe sie vollends starben.
«Und wohin gehen Herr General?«fragte sein Ia, ein Oberstleutnant.
«Nach vorn, meine Herren.«
«Wir bitten Herrn General, uns anschließen zu dürfen.«
«Nein!«Gebhardts Gesicht war kantig, wie versteint.»Mein letzter Befehl — ihn behalte ich mir vor — lautet, daß jeder der Herren sich unabhängig von irgendwelchen Gefühlen zu dem Weg entschließt, den er vor sich selbst immer verantworten kann.«
«Durchbruch!«rief ein junger Hauptmann.
General Gebhardt nickte.»Wenn Sie es wagen wollen… es hält Sie niemand mehr. Am wenigsten ein Führerbefehl.«
Der junge Hauptmann größte noch einmal und lief hinaus. Es schlossen sich ihm noch vier andere Offiziere an… zurück blieben der Ia und der Quartiermeister, ein Major. General Gebhardt sah sie fragend an.
«Und Sie?«
«Wir bleiben hier im Befehlsstand und warten, was kommt. Es bleibt uns als letzter Ausweg immer noch die Waffe. «Der Ia schluckte. Er dachte an seine Frau, an seine drei Kinder, an die alte, auf ihn wartende Mutter. Er war der einzige Sohn.»Wir bitten Herrn General, auch hier zu bleiben…«
«Nein!«Gebhardt setzte seine Mütze ab und griff nach seinem weißgestrichenen Stahlhelm. Er stülpte ihn über die kurzgeschnittenen, grauen Haare. Nur die roten Kragenspiegel mit dem goldenen Eichenlaub unterschieden ihn von seinen Landsern… sein Mantel war dreckig und zerrissen wie alle Mäntel, seine Hosen mit den roten Streifen waren längst zerfetzt, er hatte sie gegen einfache Hosen umgetauscht, Hosen eines Toten.
«Wir bitten Herrn General noch einmal, ihn begleiten zu dürfen…«, stotterte der Quartiermeister.
«Nein! Warum?!«
«Wir haben Angst um den Herrn General.«
«Angst!«Gebhardt senkte den Kopf.»Angst hätten wir uns leisten können vor einigen Wochen. Wovor sollen wir jetzt noch Angst haben? Vor dem Sterben? Meine Herren… vor Erlösungen hat man keine Angst. Man geht ihnen entgegen.«
Er drehte sich um und verließ mit weit ausgreifenden Schritten den Keller. Sie hallten noch in den anderen leeren Gewölben nach, bis sie sich verloren. Der Oberstleutnant und der Major setzten sich an den aus Brettern gezimmerten Tisch. Sie schraubten die Becher von ihren Feldflaschen und gossen sich aus einer Flasche ein, die der Ia aus einer Munitionskiste holte.
Der letzte Cognac. Der letzte Schluck.
«Leben Sie wohl, Herr Seiferth«, sagte der Oberstleutnant.
«Auf Wiedersehen, Herr Dormagen.«
Sie prosteten sich zu und tranken ihre Becher in einem Zug leer.
Dann saßen sie wieder stumm am Tisch, fast bewegungslos, und warteten.
Nach einer Stunde polterte es über die Treppe. Ein sowjetischer
Leutnant betrat den letzten Kommandoraum der Division. Ihm folgten zwölf Rotarmisten mit Maschinenpistolen.
Die beiden deutschen Offiziere erhoben sich von ihren Kisten und grüßten. Der junge Leutnant der Roten Armee grüßte verblüfft zurück.
«Dawai!«sagte er dann und zeigte mit dem Daumen zum Ausgang. Mit gesenkten Köpfen gingen die deutschen Offiziere durch das Spalier der Rotarmisten ins Freie. Für sie war die Hölle zu Ende.
General Gebhardt rannte unterdessen durch die Nacht zum Abschnitt >Tennisschläger<. Wo er auftauchte, verbreitete er sprachloses Erstaunen. Ein paarmal wollte man ihn festhalten… da wurde er wieder General und fauchte die Offiziere an, die ihn beschworen, in den Bunkern zu bleiben. So fragte er sich durch bis zum Feldlazarett III, zu den Kellern unter dem Kino.
Dr. Körner war der erste, der den General sah. Er kniete auf der Treppe und verband einen Kopfschuß. Die Keller waren überfüllt, die neue Welle der Verwundeten, die aus den Trümmern herangespült wurde, mußte auf der Treppe oder rund um das Kino in den Trichtern versorgt werden. Bald waren es 5000, die herumlagen, ein Berg von zerrissenem Fleisch, aus dem es stöhnte wie aus einem ruhenden Vulkan.
«Herr… Herr General…«, stotterte Dr. Körner und wollte Haltung annehmen. Gebhardt winkte ab.
«Lassen Sie den Quatsch, Doktor! Lebt Ihr Chef noch?«
«Jawohl, Herr General.«
«Was soll diese merkwürdige rote Fahne mit dem grünen Kreuz auf der Kinoruine?«
«Das ist eine sowjetische Lazarettfahne, Herr General.«
«Aber — «General Gebhardt sah sich um. Die Treppe herauf kam Olga Pannarewskaja mit frischen, gewaschenen Verbänden und einer Tasche voll Morphiumampullen.»Was soll denn das? Eine Frau? Eine Russin? Sind Sie denn schon überrollt?«General Gebhardt grüßte, als die Pannarewskaja vor ihm stand.
Dr. Körner nannte ihren Namen. Gebhardt blickte hilflos im Kreis. Deutsche und sowjetische Verwundete lagen einträchtig in den Trümmern, zwei sowjetische Krankenträger halfen ihnen Und auf der Ruine wehte die rote Fahne.
«Was soll das alles?«
Dr. Körner atmete tief auf.»Ich habe die Ehre, Herrn General meine Braut vorstellen zu können…«
Die Pannarewskaja lächelte still.»Ja…«, bestätigte sie leise.»Ja, so ist es…«
«Aber das ist doch Wahnsinn, Körner!«Gebhardt wandte sich an die Ärztin.»Er wird doch morgen oder übermorgen gefangengenommen! Und Sie wird man verurteilen zu Zwangsarbeit, weil Sie einen Deutschen lieben!«
«Ich weiß, Genosse General.«
«Und trotzdem?«
«Trotzdem. Wir werden uns einmal wiedersehen…«
«Gott erhalte Ihnen diesen Optimismus.«
«Es ist Liebe, Genosse General…«
Gebhardt hob hilflos die Schultern und stieg hinab in die Gewölbe. Als nächsten sah er Dr. Sukow.. aber da wunderte er sich schon nicht mehr. Er hatte das Einmalige und doch so Selbstverständliche begriffen: Hier gab es keinen Krieg mehr. Hier war eine Insel der Schmerzen und des Sterbens… und Schmerzen und Sterben kennen keine Nationalitäten mehr, keine verschiedenen Uniformen, keine Ideologien… sie machen alle gleich… zu um Hilfe bettelnden Menschen.
Dr. Portner ruhte sich auf seinem Strohsack aus, als General Gebhardt eintrat.
«Bleiben Sie sitzen, Doktor — «, rief er, als der Stabsarzt aufspringen wollte.»Ich haue mich neben Sie. Was Sie da in Rot und Gold sehen, sind nur dumme Tapisserien — ich bin nur der Friedrich Gebhardt, sonst nichts. Ich bin der Letzte meiner Division…«
«Herr General…«Portner schüttete aus einem summenden Blechkessel heißen Tee in den Deckel eines Kochgeschirrs. Gebhardt nahm ihn am Griff und schlürfte gierig den glühenden Tee. Er trank in kleinen, schnellen Schlucken, die er durch das Anblasen des Tees unterbrach. Portner beobachtete ihn von der Seite. Ein schöner, schmaler Gelehrtenkopf, dem selbst die Bartstoppeln nichts von der inneren Würde nahmen.
«Das tat gut«, sagte General Gebhardt und reichte den Kochgeschirrdeckel zurück.»Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden, Doktor.«