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Als der Panzer davongerumpelt war, sprangen Knösel und die beiden Sanitäter aus ihrer Deckung und schleiften General Gebhardt, Oberst von der Haagen und Stabsarzt Dr. Portner von der Straße. Auch Dr. Körner stand plötzlich neben ihnen… stumm griff er seinem Stabsarzt unter die Arme und trug ihn mit Knösel zum Lazarettkeller zurück. Die Sanitäter folgten ihnen… sie trugen den General und den Oberst über den Schultern wie Fleischer eine Rinderseite.

Dr. Sukow und die Pannarewskaja standen schweigend vor den Toten, als man sie im OP-Keller niedergelegt hatte. Pfarrer Webern betete stumm. Er hatte das kleine, goldene Brustkreuz zwischen die gefalteten Hände geklemmt und die Augen geschlossen. Seine Erschütterung war unsagbar, sie verschloß ihm den Mund. Man müßte Hiob sein, dachte er. Jetzt müßte man rufen können: Gott — warum?!

Im kleinen Keller neben dem OP-Raum hockte Knösel und weinte. Er saß wie ein sterbender Hund in der dunklen Ecke, und Iwan Iwanowitsch Kaljonin und seine Frau Vera saßen neben ihm und hatten die Arme um ihn gelegt.

«Kriegg bald kaputt…«, sagte Kaljonin leise und hielt den schluchzenden Kopf Knösels fest.»Briederchen… nur noch einen Tagg… odder zwei…«

Chefchirurg Dr. Andreij Wassilijewitsch Sukow zog eine alte, blutbefleckte Decke über das Gesicht Dr. Portners. Olga Pannarewskaja half ihm mit der Starrheit einer Puppe. Ihr bleiches, tatarisches Gesicht war regungslos. Man hatte ihr erzählt, daß auch Dr. Körner beinahe nicht mehr zurückgekommen wäre, daß man ihn zwingen mußte, weiterzuleben. Nun stand er an einem der Tische und operierte… es war, als läge auf dem Nebentisch nicht Dr. Portner, er sah nicht hin, drehte ihm den Rücken zu, beugte sich über den zerrissenen Körper und schnitt in die zuckende Wunde… doch ab und zu unterbrach er seine Operation, drückte das Kinn an die Brust und zwang sich, nicht aufzuheulen. Dann lief ein Zittern durch seinen schmalen Jungenkörper, und die Pannarewskaja legte die Hand auf seine Schulter, stumm, aber mit einem kräftigen Druck. Da operierte er weiter.

Beim Morgengrauen wurden General Gebhardt, Oberst von der Haagen und Stabsarzt Dr. Portner begraben. So unterschiedlich sie im Leben gewesen waren, nun lagen sie nebeneinander in einem Granattrichter, jeder in eine Zeltplane gewickelt, auf der Brust ein Kreuz, das Knösel aus Dachlatten gezimmert hatte. Pfarrer Webern und der verwundete, von zwei Sanitätern gestützte Pastor Sanders sprachen die Gebete. Dann wurden die ersten Steine auf die Körper gerollt… Dr. Sukow war der erste, und er merkte erst da, als er die Hände gebrauchen mußte, daß er sie bei den Gebeten gefaltet hatte, unwillkürlich, wie selbstverständlich. Er schielte zu der Pannarewskaja hinüber… sie stand neben Dr. Körner und hatte auch die Hände gefaltet.

Und wir sind Kommunisten, dachte Dr. Sukow. Wir sagen: Religion ist Opium fürs Volk… Wie nötig haben wir manchmal Opium… Er warf die ersten Steine in den Granattrichter und trat dann zurück. Stein um Stein wurde geworfen… wer von den Verwundeten gehfähig war, kam an den Trichter gewankt und wälzte seinen Stein über die Toten.

Als der Trichter aufgefüllt war, steckte Knösel ein großes Kreuz aus verbrannten schwarzen Deckenbalken in den Steinhaufen.

«Herr, Dein Ratschluß ist uns Menschen oft unverständlich…«, sagte Pastor Sanders leise, als das Kreuz stand…»aber wir beugen uns ihm, denn du wirst es gutmachen. Einst hast du die

Waffen gesegnet, die der Freiheit dienten… segne uns jetzt, die wir die Freiheit verloren haben…«

Mit einem strahlend blauen Himmel und einer glänzenden, silbernen Wintersonne begann der neue Tag. Der 30. Januar 1943.

Der Wehrmachtsbericht meldet darüber lakonisch:

In Stalingrad ist die Lage unverändert. Der Mut der Verteidiger ist ungebrochen.

Der Reichspressechef gab an diesem Tag für die gesamte deutsche Presse folgende Tagesrichtlinie heraus:

1. Im Zeichen äußerster Entschlossenheit und_ fester Siegeszuversicht gestaltet die deutsche Presse die heutige Ausgabe des 30. Januar 1943 zu einem eindrucksvollen und mitreißenden Appell an die deutschen Volksgenossen.

An diesem Tag gab der Chef des Generalstabes der 6. Armee, General Schmidt, eine Antwort, die man nie vergessen sollte, wenn der Name Stalingrad fällt, denn hier wurde der Wahnsinn zur Methode. Im Keller des Kaufhauses Univermag sitzend, empfing General Schmidt den verzweifelten Anruf eines Panzerkorpschefs. Er bat um Einstellung des sinnlosen Kampfes. General Schmidt antwortete:

«Wir kennen die Lage… der Befehl lautet: Es wird weitergekämpft!«

«Aber womit?«schrie der Oberst der Panzertruppen.»Was sollen wir ohne Munition tun?!«

Und General Schmidt antwortete:

«Ihre Soldaten haben doch Messer und Zähne. Sie sollen beißen!«

Nach dieser Antwort begingen die Offiziere des Panzerkorps Selbstmord…

Im Führerhauptquartier wurde die >Machtübernahme< gefeiert. Die Generäle gratulierten und brachten Toaste aus. Der Reichsmarschall Hermann Göring, verantwortlich für die mangelhafte Luftversorgung der 6. Armee im Kessel Stalingrad, hielt eine Rede über alle deutschen Sender,

«… Wir haben die Russen bisher geschlagen, wir werden sie auch wieder schlagen…«, rief er mit seiner hellen Fanfarenstimme. Und:»… Aus all diesen gigantischen Kämpfen ragt nun gleich einem gewaltigen Monument der Kampf um Stalingrad heraus. Es wird der größte Heroenkampf in unserer Geschichte bleiben. Was dort jetzt unsere Grenadiere, Pioniere, Artilleristen, Flakartilleristen und wer sonst in dieser Stadt ist, vom General bis zum letzten Mann, leisten, ist einmalig. Mit ungebrochenem Mut und doch zum Teil ermattet und erschöpft, kämpfen sie gegen eine gewaltige Übermacht um jeden Block, um jeden Stein, um jedes Loch, um jeden Graben…«Und am Ende der Rede:»… Wenn die Sonne wieder hoch steht, wird sie die deutschen Truppen im Angriff finden, genauso wie im vorigen Jahr.. «

Und am gleichen Tag schrien Zehntausende bei der Rede des Reichspropagandaministers Dr. Goebbels im Berliner Sportpalast: Führer befiehl — wir folgen dir…!«

Generaloberst Paulus wurde an diesem Tag zum Generalfeldmarschall befördert. Um die gleiche Stunde sprach Hitler mit seinen Generälen über die Aufstellung einer neuen 6. Armee. Der Grabkranz für 330 000 Soldaten war die Ernennung ihres Kommandeurs zum Feldmarschall.

An diesem 30. Januar 1943 feierten auch die Sowjets… am Mittag zogen über die Ruinenstadt Stalingrad, unter einem strahlenden Himmel, sowjetische Fliegergeschwader in Paradeformation vorüber. Ein paarmal wiederholten sie die Luftparade, eine Demonstration ihrer Macht und der Ohnmacht der verhungerten, sterbenden, in Löchern und Kellern hockenden Reste einer zermahlenen deutschen Armee.

Die Offiziere des Armee-Oberkommandos starrten in den glänzenden Himmel und schwiegen betroffen. Feldmarschall Paulus saß in seinem Keller… jetzt, in den letzten Stunden, war es in ihm so leer, daß er überhaupt nichts mehr begriff. Er stand einem Schicksal gegenüber, das über seinen Begriff reichte.

An diesem Morgen wurde aber auch das große schwarze Kreuz vom Grabe Dr. Portners geschossen. Zwei sowjetische Panzer ver-" anstalteten darauf ein Scheibenschießen.

«Sehen sie denn die Fahne nicht?!«schrie die Pannarewskaja.»Auf ein Kreuz zu schießen… sind wir denn Unmenschen?!«

Dr. Sukow hob die Schultern.»Ein Kreuz? Genossin Olga… was wissen unsere Jungs von einem Kreuz? Und eine Fahne? Se-hen Sie doch hinaus… es hängt nur noch ein grüner Fetzen an der Stange. Unmenschen…?«Dr. Sukow schwieg einen Moment. Dann nickte er.»Ja, Unmenschen sind wir, Genossin… wir alle… Wären wir normale Menschen… wie könnten wir das alles aushalten…?«

Es gab keine Front mehr, keine Linie, keine Stellungen. Im Norden, in der Mitte und im Süden wurden die deutschen Soldaten wie wilde Hasen gejagt. Panzer fuhren durch die Straßen, sowjetische Stoßtrupps kämmten die Keller durch… hier wurde geschossen, dort wurde sich ergeben… in einigen Kellern trank man die letzte Schnapsration aus und erschoß sich selbst mit der letzten Patrone. In den gewaltigen Ruinenwüsten der Industriewerke im Norden wurde noch um jeden Meter gerungen. Warum, das fragte man nicht. Der alte Gedanke, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen, herrschte vor. Daß es möglich war, nicht zu schießen und zu überleben, daran dachten sie nicht. Sie starben… das Geheimnis des Heldentums wurde vollkommen an ihnen, ebenso wie das Geheimnis, Sinnlosigkeiten nicht zu erkennen, wenn man eine Uniform trägt.