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Ein junger Hauptmann der Gardedivision stieg hinab in den Kinokeller. Chefchirurg Dr. Sukow kam ihm entgegen. Er stellte Assistenzart Dr. Körner vor als Herr über 3500 Sterbende.

«Wir werden alles tun, Genosse Major«, sagte der Hauptmann zu Dr. Sukow.»Alles, was wir können.«

«Und wieviel ist das?«fragte Sukow zurück.

Der Hauptmann sah den Arzt lange an, ehe er antwortete.

«Das wissen Sie doch selbst am besten, Genosse Major.«

Dr. Sukow wandte sich ab und ging wortlos zurück in das Kellerlabyrinth mit den aufgeblähten, fiebernden, eiternden, verfaulenden Leibern.

Der erste, der den Keller verließ, war der >Held der Nation< Oberst Sabotkin. Gestützt auf zwei Leutnante schwankte er ans Tageslicht. Auf der Straße wartete ein Krankenwagen auf ihn… er hatte gar keine Zeit, sich von Dr. Körner zu verabschieden. In rasender Fahrt brachte man ihn zum Wolgaufer.

Dann kamen sie nacheinander aus dem Keller… die gehfähigen Verwundeten, die Sanitäter, die Träger, die Funker, die Unterärzte… zuletzt Dr. Körner. Neben ihm ging Olga Pannarewskaja, hocherhobenen Hauptes, vorbei an dem ersten Offizier, der völlig verblüfft grüßte und ihnen mit offenem Mund nachstarrte.

Draußen, im Schnee, stand Dr. Sukow und blickte weg. Er wußte, was jetzt kommen mußte, und er wollte Olga Pannarewskaja nicht in die Augen sehen.

Ein Hauptmann trat auf sie zu und hielt sie am Arm fest, als sie Dr. Körner zu der langen Reihe der Gefangenen begleitete, die rund um das Kino wartete.

«Genossin…«, sagte er mild.

«Lassen Sie mich!«Sie schüttelte seinen Griff ab und blieb stehen. Ihre schwarzen Augen flammten auf, die Wildheit ihrer asiatischen Vorfahren durchglühte sie.»Lassen Sie mich gehen! Was wollen Sie von mir?!«

«Ihr Weg ist dorthin, Genossin. «Der Offizier zeigte zu einigen sowjetischen Krankenwagen, die herangefahren waren, um die russischen Verwundeten aus dem Keller abzuholen.

«Ich gehe, wohin ich will…«

«Das wird Ihnen keiner verwehren, Genossin. Aber wir sind im Vaterländischen Krieg, Sie sind Offizier, und es gilt der Befehl des Marschalls Stalin.«

«Ich habe ihn immer befolgt.«

«Bitte — dann treten Sie zurück.«

«Nein!«Sie warf die Haare herum, ein schwarzer Panther, der die Krallen und Zähne zeigt.»Nein!«sagte sie noch einmal laut und trotzig.

Dr. Körner verstand nicht, was gesprochen wurde, aber er verstand ihr >Njet! Njet!< und wußte, worum es ging. Er legte seine Hand auf den Arm Olgas, eine zittrige Greisenhand, die einem 26jährigen gehörte.

«Geh mit ihnen, Olga«, sagte er tonlos.»Du wirst einen Krieg und eine Weltanschauung nicht besiegen können. Sie werden dich zerbrechen.«

«Ich bleibe bei dir…«

«Es geht doch nicht…«

«Warum geht es nicht?«schrie sie und wandte sich an die herumstehenden Offiziere.»Warum geht es nicht?! Andreij Wassilijewitsch — warum geht es nicht?!«

Dr. Sukow schwieg und wandte sich ab. Olga Pannarewskaja ballte die Fäuste und hob sie hoch.

«Sind wir Menschen?!«schrie sie.»Antwort… sind wir Menschen?!«

«Bitte, Genossin…«, sagte der Hauptmann mit belegter Stimme.»Ich kann nichts dafür, daß wir in dieser Zeit leben. Sie müssen sich trennen…«

Die Pannarewskaja blieb mit hängenden Armen und gesenktem Kopf stehen, als Dr. Körner weiterging zu der langen, dunklen Reihe der wartenden Gefangenen. Dr. Sukow trat auf sie zu und wollte den Arm um ihre Schulter legen. Sie schüttelte ihn ab und warf sich herum.

Noch einmal sahen sie sich an… Dr. Körner reihte sich ein, ein dunkler Fleck inmitten dunkler Flecken… aber ihre Augen trafen sich, ihre letzten Blicke schrien sich zu…

«Auf Wiedersehen…«, sagte Olga Pannarewskaja leise.»Ich liebe dich… ich liebe dich.. «

Ein Leutnant faßte sie unter den Arm und führte sie ab zu den Sanitätswagen. Das letzte, was Dr. Körner von ihr sah, waren ihre Haare… sie flatterten wie eine schwarze, zerfetzte Fahne im Morgenwind.

Sie sahen sich nie wieder..

Am Nachmittag zog ein ungeheurer grauer Wurm schwankender Gestalten aus den Trümmern Stalingrads hinauf in die Steppe nach Süden. Zu dem Sammellager Beketowka an der Wolga. Sie gingen stumpf dahin, aber im Herzen froh, das Grauen der Hölle überlebt zu haben. Sie konnten noch nicht ahnen, daß allein in Beketowka 35 000 von ihnen sterben würden, an Hunger, an Fie-ber, an Typhus, an Entkräftung, durch Schneesturm und Eiswind.

Über 95 000 deutsche Soldaten bildeten die endlose Schlange der Leiber. Aber es waren kaum noch Menscher… es waren wandernde Trümmer, die den zerfetzten Häusern glichen, aus deren Kellern sie hervorkamen.

Ein Auffanglager in einer Fabrik gab Verpflegung an die Deutschen aus. Eine Kelle Hirsebrei, etwas Fisch und ooo Gramm Naßbrot.

600 Gramm Brot! Fisch! Hirsebrei!

Das Paradies war erobert worden!

Aber es war nur ein kurzes Paradies. Die Mehrzahl der 95 000 hungerte weiter, schleppte sich in die Steppe, fiel seitlich der Kolonnen in den Schnee, starb aus Erschöpfung. Die Wege, auf denen die deutschen Gefangenen in die Auffanglager gezogen waren, waren deutlich markiert. Links und rechts lagen die schwarzen Hügel, die einmal Mensch gewesen waren… Metersteine einer Straße, die ins Nichts führte.

Inmitten der sich durch den Sturm windenden Menschenschlange gingen zwei Männer. Sie schleiften einen dritten zwischen sich. Er hing mit den Armen an ihren Schultern und versuchte, Schritt zu halten. Aber sie trugen ihn mehr, so gut sie es noch mit ihren schwachen Kräften konnten.

«Laßt mich liegen…«, stammelte Pastor Sanders, als die Kolonne stockte.»Bitte, laßt mich liegen. «

«Du sollst Gott nicht herausfordern, gerade du nicht. «Pfarrer Webern wischte das Gesicht des Pastors mit Schnee ab. Dr. Körner, der zweite Mann, der den Pastor aufrecht hielt, japste nach Luft. Er schob den Arm Sanders’ dichter um seinen Hals und biß die Zähne zusammen, als die Kolonne sich weiterbewegte.

Durch den Schnee, durch den Sturm, in eine Endlosigkeit hinein… und die Fußstapfen der Tausende verwehten von einer Minute zur anderen, ihre Körper lösten sich auf hinter der Wand aus wirbelnden Flocken und heulendem Nebel… irgendwo war ein Zelt, eine Hütte, eine Baracke, irgendwo war ein Bett, eine Strohschütte, ein trockenes Plätzchen, irgendwo war ein Löffel heiße Suppe, die nach Kohl schmeckte. heiße Suppe.. heiße Suppe…

Irgendwo…

Hinter Schneewänden, hinter Sturm, hinter erstarrenden Leibern, hinter Gebeten und Flüchen, hinter dem treibenden Dawai

— dawai…

Irgendwo…

Nach zwei Stunden trugen sie Pastor Sanders. Dr. Körner faßte ihn unter den Armen, Pfarrer Webern trug die Beine. Sie gingen im gleichen Schritt, damit der Körper nicht pendelte. Ab und zu beugte sich Pfarrer Webern vor und schüttelte den Körper. In der eingeknickten Höhlung des Bauches sammelte sich der Schnee zu einem kleinen Hügel.

Irgendwo war ein Bett… ein Haufen Stroh… oder nackte, trockene Erde. Welch eine Wonne… trockene Erde…

Nicht weit von ihnen ging Knösel. Die letzten Worte Kaljonins hatten nicht gewirkt. Er wurde in die Reihe der anderen gestoßen, er war einer der 95 000. Aber er grollte nicht darüber… er lebte, er marschierte hinaus aus der Stadt, von der er geglaubt hatte, daß er sie nie mehr verlassen würde. Er war gesund, er hatte sogar Kraft, und er hatte seine Pfeife noch. Wenn sie erst wieder brannte, und wenn es Heu war, würde das Leben weitergehen…

Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist… aus Dr. Körner und Olga Pannarewskaja, aus Pfarrer Webern und Pastor Sanders, aus dem Gefreiten Hans Schmidtke, den man Knösel nannte, und aus Vera Kaijonina. Nur Dr. Sukow tauchte wieder auf… er wurde Chefchirurg in Charkow.