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«Heul nicht, mein Sohn. Natürlich reicht er. Aber sag mir mal, wie wir dich in eine ruhigere Gegend bringen sollen… Bis zum nächsten Sanka, der dich wegschaufelt, geht’s ein paar Kilometer durch die Hölle. Und das mit einer Trage…«

«Ich… ich kann laufen, Herr Stabsarzt. «Der Verwundete richtete sich mit klapperndem Unterkiefer auf.»Ich habe doch nichts an den Beinen… Wenn ich zur nächsten Sammelstelle laufen dürfte…«

Dr. Portner drückte ihn auf den Tisch zurück.»Mal sehen, mein Sohn. Zunächst bekommst du eins auf die Nase! Und wenn du wieder aufwachst, sieht die Welt anders aus. Äther, Wallritz!«

Während Feldwebel Wallritz den Verwundeten narkotisierte, lehnte sich Portner gegen die Tischkante. Dr. Körner stand in der Gummischürze ihm gegenüber.

«Ich vermute, daß man Sie in zwei Tagen spätestens wieder nach Pitomnik holt.«

Dr. Körner schluckte mehrmals. Der Gedanke, Marianne zu sehen, mit ihr in Warschau zu sein, ein paar Tage Glück — mein Gott, nur ein paar Stunden, sie würden genügen —, ließ sein Herz rasend hämmern.

«Es ist mir ein Rätsel, Herr Stabsarzt«, sagte er heiser,»wie Sie das arrangieren konnten…«

Dr. Portner schob die Unterlippe vor. Wallritz gab ihm eine große Pinzette. Körner bekam ein Skalpell; die Knochensplitter mußten erst freigelegt werden, ehe man sie aus der riesigen Wunde ziehen konnte.

«Auch in der Hölle sind Beziehungen alles, mein Lieber«, sagte Dr. Portner.»Unser Generalarzt, der alte Abendroth, war mein Doktorvater in Würzburg. Und später war ich bei ihm Erster Assistent! Beim Aufschneiden einer Zyste habe ich ihn von oben bis unten bespritzt… das hat er mir nie vergessen. >Aha, da ist ja der Portner, der seinen Chef wässert«, sagt er seitdem immer. Tja, und Professor Abendroth hat meinem Vorschlag zugestimmt, Sie für diese dusselige Kommission abzustellen… Das ist alles!«

Dr. Portner faßte mit der großen Pinzette in die Tiefe der zuckenden Wunde.»Die Sehnen sind auch hin! Wenn er überlebt, wird er rechtsseitig wie ein Holzpflock sein…«

Stumm operierten sie weiter. Neue Verwundete spie die Trümmerwüste aus… oben kroch eine staubüberzogene Gestalt durch die Ruinen und brüllte um Hilfe. Auf Handflächen und Knien kroch sie herum, und über ihr Gesicht floß das Blut aus einem klaffenden Schlitz, der von Schläfe zu Schläfe ging, über beide Augen hinweg. Mit einem Annschuß war der Mann zum Sanitätsbunker gelaufen. Kurz vor der Treppe explodierte seitlich von ihm eine Granate und riß ihm das Gesicht auf.

«Hilfe!«brüllte er.»Meine Augen! Meine Augen!«Zwei Sanitäter warteten, an die Kellerwand gedrückt, bis der Feuerüberfall vorbei war und südwärts wanderte. Dann stürzten sie hinauf und schleiften den Schreienden hinunter in den Bunker.

In den nächsten 48 Stunden ging alles sehr schnell. Die Funkstelle der Division, zu der der Hauptverbandsplatz Dr. Portners gehörte, nahm den Befehl auf, Assistenzarzt Dr. Körner sofort nach Pitomnik abzustellen. Weiter nichts..

«Für Sie bedeutet es Frieden und vielleicht sogar Überleben«, sagte Dr. Portner. Nach zwanzig Stunden am Operationstisch saßen sie in ihrem winzigen Schlafkeller und tranken Tee.»Wenn Sie zurückkommen, wird sich manches verändert haben.«

In diesen Stunden traf auch Knösel wieder ein. Plötzlich stand er im OP und meldete:»Obergefreiter Schmidtke als Versprengter zur Stelle…«

Die Situation war nicht ungewöhnlich. Als Knösel nach Erfüllung seines Auftrages zu seiner Truppe zurückkehren wollte, fand er keinen mehr vor. Wo der Kompaniegefechtsstand war, gähnte jetzt ein tiefes Loch, die Gräben und Steinbunker waren verlassen bis auf die Toten, die in bizarren Stellungen herumlagen. Schwarz, zusammengeschrumpft, verkohlt. Flammenwerfer.

Einen ganzen Tag war Knösel in der Trümmerwüste herumgeirrt. Gegen Abend saß er allein im Erdgeschoß eines Hauses und verhielt sich still, denn über ihm, im ersten Stockwerk, saßen die Sowjets und bestrichen mit drei MGs den Umkreis. Es war überhaupt alles verwirrt. Es gab kein Vorne und Hinten mehr; überall hockten Russen und Deutsche, in der Erde, in geborstenen Häusern, in Laufgräben, in Unterständen aus Stein oder verkohlten

Balken. Es gab keine Front mehr… Plötzlich tauchte hier oder da jemand aus den Trümmern auf, und dann knallte es von allen Seiten.

Knösel saß auf einem Sack voller Büchsen und grübelte. Sein Versprechen hatte er eingehalten… er hatte in Pitomnik organisiert. Fleischbüchsen, Kekse, Marmelade, Bonbons, Schokolade, Nudelpakete, Bouillonwürfel, Erbswürste und Apfelsinen. Darauf war er besonders stolz. An dem Tage, an dem Dr. Körner heiratete, lud man hundert Zentner Apfelsinen aus. Der Stabszahlmeister, der die Ware in Empfang nahm, beorderte sofort vier Feldgendarmen zum Lager, um die wertvolle Ladung zu schützen. Sie wurde verbucht und zunächst auf Lager genommen. Apfelsinen gehören nicht zur normalen Truppenverpflegung. Man mußte also noch genau durchdenken, wie und wo man die hundert Zentner Südfrüchte verteilte. Man mußte einen Verteilerschlüssel ausrechnen. Auch war nicht klar, ob man die Apfelsinen als Sonderverpflegung ausgeben sollte oder als Marketenderware. Es war schon ein Problem für die Wehrmachtsbeamten, und es war vorauszusehen, daß es nicht eher gelöst sein würde, bis die Apfelsinen verfault waren. Ein Vorwurf traf niemanden, denn bei einer straffen preußischen Ordnung ist es ja unmöglich, die Südfrüchte einfach an die kämpfende Truppe weiterzugeben. Niemand war bereit, die Verantwortung für diese Bevorzugung der Stalin-grad-Stadt-Kämpfer zu übernehmen, denn auch die Transportkompanien leisteten Unmenschliches, die Werkstätten, der Troß, die Stäbe, die Bäckereien, Küchen, Fleischereien und die Verwaltungsstellen. Jedem stand also eine Apfelsine zu… Der Stabszahlmeister stöhnte vor diesem Problem.

Für Knösel gab es diese Probleme nicht. Er entdeckte ein loses Brett in der Barackenwand, untersuchte es fachmännisch, denn Hans Schmidtke war in Friedenszeiten ein Schreiner, und als er das Brett zur Seite schob, sah er die Apfelsinenkisten vor sich, greifnah und verwirrend duftend.

So ähnlich erging es Knösel auch mit den anderen Dingen. Fast von selbst wurde er in Versuchung geführt. Am Ende des Erkundungsganges schleppte Knösel einen prallen Sack auf der Schulter und passierte damit die Kontrollen der Feldgendarmerie. Nur einer hielt ihn an.

«Was ist im Sack?«fragte er.

«Steine aus Stalingrad!«sagte Knösel.»Ein Juwelier in Berlin will se in Jold fassen und als Erinnerungsbroschen verkoofen…«

Der Feldgendarm war so verblüfft, daß er Knösel weiterziehen ließ. Nun saß er auf seinem Sack in einem Haus, über sich drei russische MGs, allein, seine Kameraden suchend und im Herzen ehrliche Wehmut wie ein ausgesetztes Kind. In der Nacht kroch er zurück zum Sanitätskeller. Von irgendeinem Haus her wurde er beschossen, es schlug mehrmals in den Sack ein, den er hinter sich herzog, Apfelsinensaft durchnäßte das Leinen.

Knösel stürzte sich kopfüber in ein Loch und zog den Sack nach.»Ick preß mir die Apfelsinen selber!«schrie er. Dann wartete er, bis sich die Umgebung etwas beruhigt hatte, kroch aus dem Loch und tappte weiter durch die Trümmer.

Nun war er wieder bei Dr. Körner, grinste ihn breit an und klopfte gegen den schmutzigen Sack.

«Melden Sie sich bei Feldwebel Wallritz«, sagte Dr. Portner.»Er wird Sie einteilen. Was haben Sie da eigentlich in dem Sack?«

«Fruchtsaft, Herr Stabsarzt.«

«Raus!«brüllte Portner. Und als Knösel zur Tür schoß, rief er:»Halt! Sind Sie nicht der Fahrer von der 3. Kompanie?«

«Jawoll, Herr Stabsarzt.«

«Ihre Kompanie ist im Eimer?«

«Jawoll.«

«Sie werden Herrn Assistenzarzt Dr. Körner wieder nach Pitomnik bringen.«

«Jawoll. «Knösels Gesicht glänzte.»Wenn ich noch zwei Mann und sechs Säcke mitnehmen könnte, Herr Stabsarzt.«