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„Wir wollen in die Bibliothek gehen. Ich habe noch zwei Stunden Zeit bis zur Ablösung, Sie sogar noch länger.“

Widerspruchslos folgte sie ihm in das Bibliothekszimmer.

Die Bibliothek, die zugleich Aufenthaltsraum war, lag, wie bei allen Weltraumschiffen, unmittelbar hinter der Kommandozentrale. Karil und Taina öffneten die hermetisch abschließende Tür des dritten Querkorridors und traten hinaus zur zweiflügeligen ellipsenförmigen Luke des Mittelgangs. Karil war aber kaum auf die bronzene Platte getreten, und die schweren Flügel hatten sich lautlos geöffnet, als die jungen Menschen einen gewaltigen schwingenden Ton vernahmen. Voller Freude drückte Taina die Hand Karils.

„Mut Ang!“

Lautlos glitten beide in den Raum. Gedämpftes Licht schwebte wie eine Rauchwolke unter der mattierten Decke. Zwei Menschen verschwanden fast in den tiefen Sesseln, die, in Nischen versteckt, zwischen den Filmvorführungspfeilern aufgestellt waren. Taina erblickte den Arzt Swet Sim und die vierschrötige Gestalt von Jaß Tin, dem Ingenieur für die Pulsationsanlage, der mit geschlossenen Augen vor sich hin träumte. Zur Linken, unter den glatten Klangmuscheln der akustischen Einrichtung, beugte sich der Kommandant der „Tellur“ selbst über die silbern schimmernde Tastatur des EVK.

Das EVK — das „Elektronische Violinklavier“ — hatte auf der Erde schon seit langem das hart anschlagende temperierte Klavier abgelöst. Es hatte zwar dessen vielstimmige Klangfülle übernommen, ihr aber noch den ganzen Reichtum der Violintöne hinzugefügt. Der Einsatz von Tonverstärkern im geeigneten Augenblick verlieh diesem Instrument eine geradezu erschütternde Ausdruckskraft.

Mut Ang hatte die Eintretenden nicht bemerkt. Er rückte ein wenig nach vorn, hob den Kopf und ließ den Blick über die Rhomben der Dekkentäfelung gleiten. Genau wie beim Klavier von ehedem bestimmten Hände und Finger des Musizierenden auch beim EVK alle Nuancen des Klanges, obwohl die Töne nicht mit Hilfe von Hämmerchen und Saiten, sondern durch äußerst empfindsame Elektronenimpulse hervorgebracht wurden. Harmonisch verflochten flossen in Mut Angs Spiel die Themen dahin, als wollten sie die Einheit von Erde und Kosmos zum Ausdruck bringen. Bald aber teilten sie sich und entfernten sich weit voneinander. Wie tiefe Traurigkeit klang jetzt die Musik, um dann in dumpfe, ferne Donnerschläge überzugehen. Nun kamen diese näher, verstärkten sich und brachen schließlich mit schrillen Disharmonien, wie mit Schreien der Verzweiflung, ab. Plötzlich erstarb der rhythmische Aufmarsch der Noten. Ein mächtiger Akkord, wie der Zusammenprall von Urgewalten, und alles löste sich in einem sich überstürzenden Flusse von Dissonanzen auf und verlief sich in einem unergründlichen dunklen See wie eine bittere Klage über einen unersetzbaren Verlust.

Völlig unerwartet zauberten jetzt die Finger des Kommandanten die klaren und reinen Töne heller Freude aus dem Instrument hervor. Sieghaft vereinigte sich ihre erquickende Melodie mit der leisen Trauer der Begleitakkorde.

Unhörbar betrat Afra Dewi, in einen weißen Arztkittel gehüllt, die Bibliothek. Sofort gab Swet Sim, der Schiffsarzt, dem Kommandanten ein Zeichen. Mut Ang nahm die Hände von den Tasten, erhob sich, und tiefe Stille löste die Gewalt der Töne ab wie eine schnell hereinbrechende Tropennacht die Abenddämmerung.

Der Arzt und der Kommandant verließen zusammen die Bibliothek, und besorgte Blicke der Zurückbleibenden begleiteten sie. Den zweiten Astronavigator hatte während seines Wachdienstes ein Unglück ereilt, wie es nur ganz selten an Bord vorkam: Es war bei ihm eine eitrige Blinddarmentzündung aufgetreten. Wahrscheinlich hatte er vor Antritt der Reise die von ärztlicher Seite aus erlassenen Vorschriften zur Vorbereitung auf die Reise in den Kosmos nicht bis in alle Einzelheiten erfüllt. Nun wollte Swet Sim die Entscheidung des Kommandanten darüber einholen, ob eine Operation vorgenommen werden solle.

Mut Ang äußerte Bedenken gegen einen chirurgischen Eingriff. Die moderne Medizin bevorzugte die Einwirkung mittels Impulsen auf das Nervensystem des menschlichen Organismus. Sie beherrschte die Methoden der Impulsanwendung völlig einwandfrei und konnte viele Krankheiten erfolgreich damit bekämpfen. Aber der Arzt des Raumschiffes bestand auf seiner Meinung. Er wies nach, daß bei dem Kranken eine Anfälligkeit zurückbleiben könne, die bei den sehr großen physiologischen Anstrengungen, denen die Raumfahrer ausgesetzt sind, irgendwann einmal den Anlaß zu einer neuen Erkrankung geben könnte.

Der Astronavigator lag auf einem breiten Bett. Sein Körper war in die zahlreichen Drähte der Impulsinstrumente eingewickelt. Nicht weniger als sechsunddreißig Geräte überwachten das Befinden des Organismus. Das Zimmer war verdunkelt, nur das hypnotisierende Schlafgerät flimmerte schwach und ließ einen leisen, einschläfernden Ton hören. Swet Sim überprüfte mit einem kurzen Blick die Apparate und gab Afra Dewi, die als seine Assistentin fungierte, ein Zeichen. Jedes Besatzungsmitglied der „Tellur“ war nicht nur wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern zugleich voll ausgebildeter Fachmann auf irgendeinem Spezialgebiet, sei es nun hinsichtlich der mechanischen Anlagen des Raumschiffes oder der Betreuung und Verpflegung seiner Besatzung.

Afra trat auf einen durchsichtigen Würfel zu. In ihm lag in einer bläulich schimmernden Flüssigkeit ein vielgliedriger metallener Apparat, der einem großen Tausendfüßler ähnelte. Die Assistentin nahm das Gerät aus der Flüssigkeit heraus und zog aus einem anderen Behälter ein konisches Anschlußstück hervor, an dem ganz feine Drähte befestigt waren. Ein leichtes Knacken eines Verschlusses — und der metallische „Tausendfüßler“ erwachte zum Leben, wobei er ein kaum hörbares Summen von sich gab.

Swet Sim nickte Afra zu, und der Apparat verschwand im offenen Munde des weiterhin ruhig atmenden Patienten. Ein Leuchtschirm mit Mattglasscheibe, der schräg über dem Leib des Kranken aufgestellt war, leuchtete auf. Mut Ang trat näher heran. In dem grünlichen Lichtschein waren die grauen Umrisse der inneren Organe deutlich erkennbar. Langsam bewegte sich das Gliedergerät durch sie hindurch. Ein kurzes Aufflammen erfolgte, als das Gerät dem Magenschließmuskel einen Impuls zuleitete, in den Zwölffingerdarm eindrang und begann, sich durch die zahlreichen Windungen des Dünndarms durchzuschlängeln. Es dauerte nur noch einen Augenblick, und das stumpfe Ende des „Tausendfüßlers“ stieß vorsichtig in die Basis des Wurmfortsatzes vor.

Hier, in der unmittelbaren Umgebung der Vereiterung, waren die durch ein Aufflackern am Leuchtschirm sichtbar gemachten Schmerzen bedeutend größer. Die durch den Druck des Gerätes ausgelösten reflektotischen Bewegungen des Darmes wurden bald so stark, daß ein Beruhigungsmittel gegeben werden mußte. Binnen kurzem hatte der Untersuchungsapparat den Krankheitserreger gefunden: Es lag eine durch Eindringen von Fremdkörpern verursachte Verunreinigung vor, die zu der Vereiterung geführt hatte. Sofort nach diesem Befund zeigte das Gerät an, daß die Anwendung einer bestimmten, in genauer Dosierung aus antibiotischen und desinfizierenden Produkten zusammengesetzten Medizin geboten war. Der Gliederapparat brachte mehrere lange, schmiegsame Härchen zum Vorschein, die tief in den Appendix eingedrungen waren. Sodann wurde der Eiter abgesaugt. Anschließend entfernte das Gerät die in den Wurmfortsatz gelangten Schmutzteilchen. Schließlich erfolgte eine kräftige Ausspülung der angegriffenen Stellen mit einer biologischen Lösung, die eine schnelle Heilung der Schleimwände des Wurmfortsatzes und des Blinddarms sicherte. Während der ganzen Zeit, da das automatisch gesteuerte und präzis arbeitende medizinische Gerät im Körper des Kranken die Heilung durchführte, schlief dieser friedlich weiter. Als die Operation beendet war, hatte der Arzt weiter nichts zu tun, als das Gerät wieder aus dem Körper zu entfernen.