„Alles herhören!“ forderte Mut Ang nochmals auf. „Das Schiff wird in einer Viertelstunde mit einer weiteren Bremsung beginnen. Außer den Wachhabenden müssen alle in ihren Kajüten liegen. Die Kursänderungs bewegung des Raumschiffes wird noch besonders angekündigt. Ende der Durchsage!“
Stunden später erhob sich der Kommandant, etwas steif, aus seinem tiefen Sessel. Nachdem er die bei jedem Bremsmanöver auftretenden Nackenund Kreuzschmerzen überwunden hatte, gab er bekannt, daß man später seinetwegen volle sechs Tage und Nächte schlafen könne, daß aber im Augenblick kein Besatzungsmitglied sein Gerät verlassen dürfe, da jetzt die letzte Gelegenheit zur Beobachtung des Kohlenstoffsternes sei.
Tei Eron blickte dem Kommandanten, der eben die Kommandozentrale verlassen hatte, gedankenvoll nach. Mit jeder Vervollkommnung steigerten sich Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit der Weltraumschiffe. Man konnte schon kaum mehr einen Vergleich ziehen zwischen einem „Schiff“ von der Art der „Tellur“ und jenen auf den Meeren der Erde schwimmenden Badewannen, die vor langer, langer Zeit den Namen „Schiff“ erhalten hatten. Aber war dieses gewaltige und stolze Weltraumschiff in den unermeßlichen Räumen des Alls etwa mehr als die schaukelnden Wannen und Schalen auf den Meeren des heimatlichen Planeten? Es war dem Ersten Offizier bei diesem Gedanken eine gewisse Beruhigung, daß der Kommandant der „Tellur“ während des Flugänderungsmanövers wach sein werde. -
Tei Eron hätte beinahe vor freudiger Überraschung einen Luftsprung gemacht, als er plötzlich das heitere Lachen Mut Angs hörte. Vor einigen Tagen war nämlich die gesamte Mannschaft durch die unerwartete Mitteilung über eine Erkrankung des Kommandanten in arge Besorgnis versetzt worden. Von da an hatte seine Kajüte nur noch der Arzt betreten dürfen. Tei Eron hatte sich dadurch vor die schwierige Aufgabe gestellt gesehen, die bereits bis in die Einzelheiten festgelegte Wendung des Raumschiffes selbst durchzuführen.
Nun mußte die erste Pulsation des Rückfluges in Richtung Sonne eingeleitet werden. Der Erste Offizier hielt es deshalb für geboten, den Kommandanten in seiner Absonderung von der Außenwelt aufzusuchen — und er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es stellte sich nämlich heraus, daß der Kommandant gar nicht krank war. Er hatte sich vielmehr, im Einverständnis mit dem Arzt, absichtlich von der Leitung des Raumschiffes ferngehalten, um Tei Eron zu zwingen, die Flugoperation ohne fremde Hilfe und in eigener Verantwortung durchzuführen. Der Erste Offizier hatte eigentlich nichts gegen diese Maßnahme des Kommandanten einzuwenden. Es war ihm nur nicht recht, und das sagte er auch dem Kommandanten, daß dieser durch die Mitteilung über seine angebliche Erkrankung der Besatzung einen nicht geringen Schrecken eingejagt hatte. Mut Ang rechtfertigte sich mit einem Scherzwort. Dann gab er seiner Meinung Ausdruck, daß an irgendeine Gefahr für das Raumschiff in der Leere des Kosmos im Augenblick nicht zu denken sei. Ein Irrtum oder ein Versagen der Geräte war ganz ausgeschlossen, da die vierfache Nachprüfung jedes Rechenwerkes es nicht zuließ, daß Unrichtigkeiten oder Ungenauigkeiten vorkamen. Auch Schwärme von Asteroiden oder Meteoriten, wie sie manchmal in der Nähe von Sternen vorkommen, konnten in einer Zone mit so hohem Strahlungsdruck, wie er in der Umgebung des Kohlenstoffsternes vorhanden gewesen war, nicht auftreten.
„Glauben Sie wirklich“, fragte Karil Rom den Ersten Offizier vorsichtig, als ihm dieser die Ansicht des Kommandanten mitteilte, „daß uns auf unserer ganzen Reise nun nichts Besonderes mehr begegnen wird?“
„Natürlich kann es unvorhergesehene Zwischenfälle wie überall, so auch im Kosmos geben. Aber nach den mathematischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ist damit kaum zu rechnen. Wir können fast sicher sein, daß wir hier, in diesem sternenarmen Winkel des Kosmos, auf nichts Neues und Unbekanntes stoßen werden. Wir werden auf der uns nun schon bekannten Flugroute direkt auf die Sonne zu, am Herz der Schlange vorüber, in Pulsation gehen.“ -
„Es ist doch sonderbar: Man empfindet weder Freude, noch hat man das Gefühl eines gewissen Stolzes über eine große Tat, die man vollbracht hat. Es ist eigentlich nichts vorhanden, was unseren über sieben Jahrhunderte hinweg reichenden Tod für die Erde rechtfertigen könnte“, meinte Karil tiefsinnig. „Natürlich weiß ich, daß wir Zehntausende von Beobachtungsergebnissen, Millionen von Berechnungen, Aufnahmen, Tagebüchern und so weiter mitbringen werden. Mit ihrer Hilfe wird man später auf der Erde viele Geheimnisse über die Zusammensetzung der Materie enträtseln können. Aber wie abstrakt ist das alles! Es sind doch nur Keime für die Zukunft, weiter nichts!“
„Wie viele Kämpfe, welche Anstrengungen und nicht selten den Tod haben in der Vergangenheit kühne Pioniere der Menschheit auf sich genommen“, erwiderte Tei Eron leidenschaftlich.
„Nun ja, der Mensch ist die einzige mit Vernunft ausgestattete Kraft im Kosmos, welche die spontane Entwicklung der Materie verwerten und sich zunutze machen kann. Aber wir Menschen sind Alleinstehende, unendlich Vereinsamte. Wir haben zwar unzweifelhafte Beweise für die Existenz vieler bewohnter Welten, aber noch niemals hat ein anderes denkendes Wesen seine Blicke mit denen der Erdmenschen gekreuzt. Es gibt eine Unzahl von Träumereien, Märchen, Büchern, Liedern, Bildern, in denen das gewaltige Ereignis einer Begegnung von Menschen mit Wesen des Alls vorausgeahnt wird — aber nichts von allem ist eingetroffen! Der große, kühne und lichte Traum der Menschheit, der sie seit jenen Tagen umfängt, da die religiöse Blindheit gerade erst von ihren Augen genommen war, hat sich bisher noch nicht erfüllt!“
„Sie sprechen von Blindheit“, mischte sich Mut Ang, der hinzugekommen war, in das Gespräch. „Wissen Sie, wie sich unsere Ahnen aus jüngster Vergangenheit zu einer Zeit, als schon das erste Raumschiff zum Flug in den Kosmos gestartet wurde, die Verwirklichung dieses ,großen Traumes‘ vorgestellt haben? Als ein kriegerisches Zusammenprallen, ein grausames Zerstören ihrer Raumschiffe und eine gegenseitige Vernichtung bei der ersten Begegnung!“
„Unfaßbar!“ riefen Karil Ram und Tei Eron entsetzt aus.
„Unsere zeitgenössischen Schriftsteller schreiben nicht gern über die finstere Endperiode des Kapitalismus“, entgegnete Mut Ang. „Es ist Ihnen ja aus dem Geschichtsunterricht in der Schule bekannt, daß die Menschheit damals einen äußerst kritischen Punkt in ihrer Entwicklung zu überwinden hatte.“
„O ja!“ stimmte Karil zu. „Das war zu der Zeit, als den Menschen bereits die Macht zur Beherrschung der Materie und des Kosmos in die Hand gegeben war, aber die Gesellschaftsordnung und die Bildung des gesellschaftlichen Bewußtseins mit den Erfolgen der Wissenschaft nicht Schritt gehalten hatten.“
„Fast haargenau formuliert! Sie sind ein guter Schüler gewesen, Karil! Aber wir wollen es einmal anders ausdrücken: Die kosmische Erkenntnis und die kosmische Macht waren in Widerspruch geraten zur primitiven Ideologie des individualistischen Privateigentums. Wohlergehen und Zukunft der ganzen Menschheit hingen damals eine Zeitlang an einem seidenen Faden. Es war die Zeit, als sich das Neue noch nicht durchgesetzt und sich die Menschheit noch nicht in der Form der klassenlosen Gesellschaft zu einer einzigen großen Familie zusammengeschlossen hatte. In der kapitalistisch eingestellten Hälfte der Welt war man damals noch blind für die neuen Wege und Ziele und betrachtete seine eigene Gesellschaftsordnung als unerschütterlich und unveränderlich, wie man auch die Unvermeidlichkeit von Kriegen und anderen Akten der Selbstvernichtung für alle Zukunft in Rechnung stellte.“
„Und da hat man von Zukunftsträumen gesprochen!“ Karil lächelte ironisch. „Wie kann man so etwas ,Träume‘ nennen?“