„Warum hast du das nicht vorher gesagt?“, fragte Samuel.
„Warum hast du mir nicht vertraut?“, schoss Mary zurück.
„Oder mir?“, fragte Jack, als er endlich zu Wort kam. „Sehen Sie, ich verstehe, dass Sie mich nicht mögen, Mr. Campbell, aber Sie kannten meine Eltern. Und ich verstehe die Szene, glauben Sie mir. Ich kann helfen.“
Samuel blickte Deanna an, was ihr zeigte, dass er sich zahlenmäßig unterlegen fühlte.
Deanna schob einfach nur ihre Gabel tief in ihre Pasta Primavera, um ihm zu zeigen, dass er da allein durchmusste.
Samuel spießte endlich seine Gabel in sein Osso Bucco, was ihr ein weiteres Lächeln entlockte. Er würde nie zugeben, dass er im Streit unterlegen war, aber wenn er nicht das letzte Wort beanspruchte, war das gewöhnlich ausreichend.
Sechs
Josh Friedrich liebte die Nachtschicht in der Leichenhalle.
Klar, eine Menge Leute hielten ihn deshalb für verrückt, aber Josh hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich darum zu scheren, was andere von ihm dachten. So konnte er nachts besser schlafen.
Oder eher tagsüber, weil er seine Nächte hier verbrachte. Im ‚Eiskasten‘ – das war sein Spitzname für den Kühlschrank, in dem die Leichen aufbewahrt wurden – und im Labor, wo er sein Ding durchzog.
Das beste daran war, dass die Cops ihn gewöhnlich nicht oft störten. Josh liebte seinen Job als Gerichtsmediziner, aber er hasste es, sich mit der Polizei herumzuschlagen. Obwohl man ihnen nicht komplett aus dem Weg gehen konnte, kamen sie nicht in die Leichenhalle, bevor es dringend notwendig war.
Also wurden Joshs Berichte entweder von einem Boten überbracht oder für jemanden hinterlegt, der sie tagsüber abholte.
Das passte Josh gut. Er konnte menschliche Körper nach Belieben untersuchen, dabei helfen, Verbrechen aufzuklären, und musste nur selten mit der Polente reden. Oder mit Reportern.
Reporter waren schlimmer. Jeden Tag seines Lebens war Josh dankbar dafür, dass er nichts mit diesem Zodiac-Killer-Blödsinn zu tun hatte. Jedem, der ihn deshalb ansprach, sagte er, dass er nicht an dem Fall arbeite, und ging weg.
Ein Nachteil bei der Spätschicht war allerdings, dass er am Sabbat arbeiten musste. Das störte Josh nicht so sehr, aber seine Mutter litt an ziemlichem Verbaldurchfall, wann immer das Thema auf den Tisch kam. Um sie zum Schweigen zu bringen, sagte er ihr entweder, dass es sich um einen dringenden Fall handelte, oder versuchte, freitags frei zu bekommen.
Aber er bat nie um die Tagesschicht. Er liebte es ruhig.
Es war also eine ziemliche Plage, dass dieser FBI-Agent auftauchte. Der Typ stürmte einfach rein, als wäre das sein Wohnzimmer oder so. Josh wusste sofort, als er hereinkam, dass er ein Bundesagent, ein Fed, war – einfach nur durch sein Auftreten. Er hatte eine Glatze, also trug er nicht diese typische aalglatte Frisur, aber der Rest schrie geradezu FBI.
Sobald er in der Leichenhalle stand, stemmte er die Hände in die Hüften und starrte Josh an.
„Dr. Friedrich?“
„Äh. Ja, Sir. Was kann ich …“
„Sie haben den Wenzel-Fall, richtig? Und die anderen Brandopfer?“
Josh blinzelte. Unhöflicher Mistkerl, oder?
„Äh, ja. Ich wusste nicht, dass das ein Fall für die Bundesbehörden ist.“
„Warum genau überrascht Sie das?“, fragte der Bundestyp kurz angebunden.
Josh schluckte nervös und dachte einen Moment nach, bevor er antwortete.
„Nun – äh – um ehrlich zu sein, mag ich die Feds nicht so gern, Sir.“
„Nun, wir haben uns gegenseitig auch nicht alle besonders gern.“
„Kann ich Ihnen nicht vorwerfen“, sagte Josh schnell. „Trotzdem bin ich überrascht, dass man Sie dazugeholt hat.“
„Das hat man nicht – wir haben uns selbst geholt.“ Dann blickte er sich im Raum um. „Ich muss die Leiche sehen.“
„Klar“, sagte Josh. „Folgen Sie mir.“
Josh führte den Fed – hatte er eigentlich seinen Namen genannt? – zurück in den Eiskasten.
„Tut mir leid, dass es so kalt ist“, sagte er, weil die Bullen immer über die Temperatur jammerten.
„Ich habe schon Schlimmeres erlebt“, sagte der Mann schulterzuckend. Er war definitiv ziemlich cool drauf.
Josh ging zur südlichen Wand hinüber – dort wurden die aktuellen Fälle aufbewahrt – und steuerte direkt auf die Metalltür zu, hinter der Marybeth Wenzels Körper lag.
Er brauchte nicht mal in die Liste zu sehen, um die richtige Schublade zu finden. Er war von diesem Fall fasziniert, oder besser, von diesen Fällen, weil es die vierte Leiche war, die so aussah.
„Ich bin froh, dass Sie hier sind“, gab Josh zu. „Die Polente kriegt das hier nicht geregelt, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Er zog das Laken zurück und legte einen stark verkohlten und zerschnittenen Körper frei. Josh fragte sich kurz, ob der Typ einer von den Kotzern war, aber er blinzelte nicht mal.
„Das sieht ziemlich schlimm aus“, sagte er einfach.
„Da haben Sie recht. Wir konnten sie nur anhand der Zahnunterlagen identifizieren. Sie hatte tolle Zähne“, sagte er mit einem Lächeln, das seine wirklich schlechten Beißer freilegte. Seine Mutter nervte ihn immer, zum Zahnarzt zu gehen. „Egal, sie hat Verbrennungen dritten Grades am ganzen Körper. Und das ist das echt Merkwürdige.“
Der Fed hatte sich über die Leiche gebeugt, um die Schnitte zu betrachten, sah aber bei Joshs letzten Worten auf.
„Was meinen Sie mit ‚merkwürdig‘, Doktor?“
„Nun, die Verbrennungen sind an allen Stellen von Kopf bis Fuß gleichmäßig. Die einzige Art, auf die das passieren kann, ist, wenn der Körper in Sekundenschnelle komplett von Feuer umgeben ist. Aber für eine Explosion gibt es zu viele Überreste, also ergibt das keinen Sinn.“
Der Bundesagent zog eine Augenbraue hoch. Das ließ ihn ganz genauso aussehen wie Mr. Spock aus dem Fernsehen.
„Und?“
„Nun, sie muss an ihrem Fundort umgebracht worden sein – die Verbrennungen machen den Körper sehr zerbrechlich. Wenn sie also post mortem bewegt worden wäre, würde es dafür Anzeichen geben, aber es gibt keine. Am Fundort gab es allerdings kein Anzeichen von Feuer. Überhaupt keins. Und mit Verbrennungen dieser Art ist das einfach unmöglich.“
„Was ist denn Ihre Theorie?“
Das brachte Josh aus dem Takt. Er war es nicht gewohnt, dass Gesetzeshüter ihn um seine Meinung baten. Oder eher um Hypothesen, weil das alles war, was er für gewöhnlich hatte. Selbst die Schmiere benutzte das Wort ‚Theorie‘ ständig falsch. Er äußerte oft freiwillig eine und manchmal hörten sie sogar zu, aber niemals hatte ihn jemand darum gebeten.
Das gefiel ihm irgendwie, obwohl es ihm besser gefallen hätte, wenn er tatsächlich eine Hypothese aufgestellt hätte.
„Ich weiß nicht“, gab er reuevoll zu. „Es tut mir leid, aber– nun, ich bin in diesem Fall mit meiner Weisheit am Ende. Es ist bei den beiden anderen das Gleiche. Hsu und Ding haben die gleichen Verbrennungen mit den gleichen fehlenden Anzeichen von Feuer am Tatort. Selbst bei Verlander ist nur ein kleiner Tisch kaputtgegangen. Ist das nicht abgefahren?“
„Das ist ein guter Ausdruck dafür.“ Der Fed warf einen erneuten Blick auf die Wunden. „Sind das Kratzer von einem Tier?“
Josh stieß ein bellendes Lachen aus, womit er einen vernichtenden Blick auf sich zog. Wieder musste Josh schlucken. Der Kerl wusste, wie man jemanden böse anstarrt. Er antwortete hastig.
„Äh, nein, Sir, sind sie nicht. Die Schnitte sind sauber und fast … äh … chirurgisch. Es sieht aus, als wären sie von einer langen Klinge verursacht worden, wie einem langen Messer.“