„Meinst du, dass er fertig ist?“, fragte Mary hoffnungsvoll.
Deanna schüttelte den Kopf.
„Hier ist ein Dämon am Werk, Mary, erinnerst du dich? Das bedeutet, dass er nicht aufhören wird. Chao glaubt vielleicht, dass er die Kontrolle hat, aber das stimmt nicht. Der Dämon wird nicht aufhören, nur weil Chao auf niemanden mehr wütend ist.“
„Außerdem hat ein Typ wie er wahrscheinlich eine lange Liste von Leuten, mit denen er ein Hühnchen zu rupfen hat“, sagte Samuel. „Wir müssen herausfinden, wo Chao wohnt. Das konnte ich aus niemandem herauskitzeln.“
„Wir sollten Jack anrufen und sehen, ob er etwas herausgefunden hat“, sagte Mary fröhlich und ignorierte die Schatten, die auf dem Gesicht ihres Vaters aufzogen.
„Okay“, sagte er. „Ruf ihn an, aber …“
Mary sprang vom Bett auf.
„… geh nach draußen in die Telefonzelle. Ich weiß.“
Samuel rief ihr nach, als sie auf die Tür zuging.
„Ich will einfach nicht den Aufschlag bezahlen, den das Hotel für Anrufe berechnet!“
Aber sie war verschwunden, bevor er zu Ende gesprochen hatte.
Als sich die Tür hinter ihr schloss, sah Samuel Deanna an und begann zu sprechen. Aber sie schnitt ihm das Wort ab.
„Darum hast du deine Haare verloren, nicht wahr?“
Zuerst blickte Samuel sie finster an, doch dann brach er in Lachen aus. Sie lachte mit.
Er zog sie in seine Arme.
„Du liebst mich immer noch, obwohl ich ein kaputter, glatzköpfiger alter Mann bin?“
„Du bist ’n verdammter Knaller, du Hengst“, sagte sie mit einem schiefen Grinsen, dann küsste sie ihn.
Neun
Albert hatte es ihnen gezeigt. Er hatte es allen gezeigt.
Es tut mir leid, Albert, du bist so nett und so – aber du bist mir einfach zu anstrengend. Ich kann einfach mit deiner verkrampften Art nicht umgehen, kapierst du? Ruf mich an, wenn du lockerer geworden bist …
„Lockerer?“ Pah.
Er war zu Großem bestimmt. Er wusste es einfach.
Wenn ihm nur nicht immer diese ganzen Leute dazwischenpfuschen würden.
Ich will weder Lügner in meiner Belegschaft haben noch Halbblütige. Scher dich aus meinem Laden, bevor ich dich rauswerfe.
Bevor sie starb, hatte ihm seine Mutter Geschichten über seinen Vorfahren erzählt. Das legendäre Herz des Drachen. Er war ein Ronin gewesen, der im feudalen Japan durchs Land reiste, für Gerechtigkeit sorgte und die Schuldigen bestrafte, bis er von einem Mob ignoranter Bauerntölpel gelyncht wurde.
Ich habe gesehen, wie du mit diesem Mädchen gesprochen hast. Wir schätzen diese Art von Benehmen hier nicht, Mister. Betrachte dich als gefeuert.
Die Leute glaubten, dass es in der heutigen Zeit keine ignoranten Bauerntölpel mehr gab. Immerhin hatte ein Mensch den Mond betreten, was bedeutete, dass die Menschheit sich entwickelt hatte, richtig?
Falsch.
Es nahm heute andere Formen an, aber es war immer dasselbe alte Lied.
Nachdem dieser Bastard ihn aus seinem Job im Supermarkt gefeuert hatte, war er in eine tiefe Depression verfallen. Alles, was er sich vorstellen, sehen oder wovon er träumen konnte, waren die Leute, die ihn am Aufstieg hinderten.
Dummes Halbblut! Du gehörst nicht nach Chinatown zu den richtigen Leuten!
Es hatte angefangen, als er noch ein Kind war. Die anderen Kinder in Chinatown hatten ihn geärgert, weil seine Mutter Japanerin war. Seine Eltern hatten ihm erzählt, dass sie nur dumm waren, Kinder, die es nicht besser wussten, und dass sich alles bessern würde, wenn er erst älter wäre.
Aber es wurde nicht besser. Überall, wohin er sich wandte, traf er auf Ablehnung, Ekel und Abscheu.
Er erinnerte sich dann gern an die Geschichten seiner Mutter über das Herz des Drachen.
Einmal, als er arbeitslos war, hatte er viel Zeit. Also machte er einen Ausflug in die Bücherei, um zu sehen, ob er etwas über das Herz des Drachen in der Sammlung japanischer Texte finden konnte.
Er fand mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.
Die Geschichten erzählten von einem Dämon, der Doragon Kokoros Seele gefangen genommen hatte. Trotzdem konnte den Texten nach die Kraft des Blutes die Macht des Dämons brechen. Ein Nachkomme des Herzens des Drachen könnte seinen dämonenbefallenen Vorfahren zurück ins Land der Lebenden holen, in dem er große Macht besitzen würde.
Das Problem war, dass die Texte lückenhaft waren. Er konnte also nicht sicher sein, ob der Zauberspruch dafür vollständig war und wie er sich letztendlich auswirken würde. Trotzdem war er sicher, dass der Zauber das Herz des Drachen an ihn binden würde. Das würde ihm die Macht verleihen, alles Falsche zu berichtigen und diese Armseligen aus seinem Leben zu entfernen.
Da war noch ein anderer Zauberspruch – der sogar vollständig war und der den Geist für achtzig Jahreszeiten verbannte, aber was nutzte der ihm? Warum sollte er erst große Macht erringen und sie dann wieder abgeben?
Zuerst hatte er nicht an alles geglaubt, was er gelesen hatte. Aber was hatte er schon zu verlieren?
Er hatte keine Freundin.
Keine Familie, keinen Job, keine Freunde.
Nichts.
Aber er hatte eine Bestimmung. Er war ein Nachkomme des Herzens des Drachen. Er verdiente etwas Besseres – und er würde es bekommen.
Jemand in seiner Stammkneipe erzählte ihm von Moondoggy Verlander, einem Hippie in Geldnot, der gut darin war, obskure Sachen zu finden. Albert heuerte ihn an. Moondoggy wurde auch sein Versuchskaninchen und er fühlte sich deswegen etwas schuldig. Das Resultat war allerdings genauso, wie er es gehofft hatte. Das Schuldgefühl wurde schnell von Euphorie vertrieben.
Dann war Albert endlich in der Lage, sich an denen zu rächen, die ihm Unrecht getan hatten, ihn abgehalten hatten, seine Bestimmung zu erreichen.
Jetzt waren sie beseitigt und er stand an einem Scheideweg.
Was sollten er und sein Vorfahre, der Ronin, als Nächstes tun?
Es hatte ihn kalt erwischt, als der Supermarkt-Manager ihn geboxt hatte. Obwohl er verblüfft war, hatte er nur einen kurzen Schmerz gespürt. Auch wenn er ziemlich sicher war, dass er gehört hatte, wie sein Nasenbein brach, blieb keine Verletzung, nachdem er das Blut weggewischt hatte.
Es schien, als sei er unverwundbar, solange das Herz des Drachen an ihn gebunden war. Das hatte nicht in den Texten gestanden und er fragte sich, welche anderen unbekannten Dinge durch die Verbindung mit seinem Ahnherrn entstanden waren. Was mochte sonst noch in den verlorenen Texten gestanden haben?
Als er sich jetzt umsah, wusste er, dass es noch mehr für ihn zu tun geben musste.
Genug. Ich kann nicht mehr in der Vergangenheit verweilen, überlegte er. Er musste über seine Zukunft nachdenken.
Sein Apartment war, milde ausgedrückt, ein Loch. Die Bude, wie sein Vermieter es genannt hatte, war winzig, mit verzogenen Dielen im Wohnzimmer, einem alten, fleckigen Teppich im Schlafzimmer und brüchigem Linoleum in der Küche. Er konnte sich kaum eine Hängematte zum Schlafen und Makkaroni zum Essen leisten. Er besaß nur einen Stuhl, den er auf der Straße gefunden hatte.
Er musste irgendwie nach oben kommen.
Das Herz des Drachen konnte ihm das ermöglichen.
Er dachte mit einem kleinen Lächeln an das, was er vielleicht erreichen konnte, und begann noch einmal den Spruch aufzusagen. Vielleicht würde es ihm helfen, seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft zu finden, wenn er mehr Zeit mit dem Ronin verbrachte.
Die Feuer der Hölle brannten hell und die Gestalt des Ronin erschien in den Flammen, die bis zur Decke züngelten. So wie das Feuer Yoshio Nakadai verzehrt hatte, folgten ihm die Flammen durch die Jahrhunderte. Albert fühlte die Hitze des Feuers auf seinem Gesicht tanzen. Sie vertrieb die Kälte aus dem schlecht geheizten Apartment.