Trotzdem war es nicht nur Hitze, die er spüren konnte. Nein, es war Macht. Er hatte die Macht über ein Wesen, das jeden töten konnte. Es wurde Zeit, dass er seinen Vorfahren noch für etwas anderes einsetzte als armselige Rache.
Das Herz des Drachen war ein großer Held gewesen, der in ganz Japan berühmt war. Albert Chao hatte vor, mindestens genauso berühmt zu werden.
Er hatte nicht genug Geld gehabt, um Moondoggy zu bezahlen, aber jetzt konnte er so viel Geld bekommen, wie er nur wollte.
Ein lautes Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Er sah einen kahlköpfigen Mann im Flur stehen. Er hatte offensichtlich die Tür eingetreten und das Schloss zerschmettert. Albert wurde wütend. Nicht nur, weil er die Tür eingetreten hatte, sondern weil sein Apartment so schäbig war, dass man die Tür so leicht eintreten konnte.
Der Mann hatte eine Pistole, sah aber nicht wie ein Räuber aus.
„Wer sind Sie?“, fragte er.
„Das tut nichts zur Sache“, sagte der Glatzkopf. „Aber ich kenne dich. Du bist Albert Chao und hast kaltblütig vier Menschen umgebracht – und ich bin hier, um dich aufzuhalten.“
Albert grinste breit.
„Das bezweifle ich.“
Wortlos befahl er dem Herzen des Drachen, den Kahlkopf zu töten. Umgeben von ewigen Flammen setzte der Geist Alberts Gedanken sofort in die Tat um. Der Ronin hob das Katana über den Kopf. Er hielt es im richtigen Winkel für einen Sokutso-Schlag, der abwärts auf das Schlüsselbein des glatzköpfigen Mannes zielte. Währenddessen erhob Albert das Wort.
„Ich kontrolliere das Herz des Drachen, Gaijin. Er steht unter meinem Kommando, solange ich lebe.“
„Gut“, sagte der kahlköpfige Mann. Er zog seine Waffe und schoss auf Albert.
Samuel musste zugeben, dass er Albert Chaos schockierten Gesichtsausdruck genoss, als die Kugel des .38er Smith-&-Wesson-Revolvers Modell 60 in sein Knie einschlug. Ein Blutfleck breitete sich auf seinem Hosenbein aus, als der junge Mann auf den verzogenen Holzfußboden fiel.
Auf dem Weg nach unten schlug Chaos Kopf gegen die Wand, was eine garstige Wunde auf der Stirn verursachte.
Unglücklicherweise bewegte sich der Mann mit dem Schwert immer noch auf ihn zu, obwohl Chao erst einmal ausgeschaltet war. Flammen flackerten grausam in dem schlecht beleuchteten Apartment.
Samuel richtete seinen Revolver auf den Geist.
„Das wird nicht viel nutzen, Samuel“, sagte Deanna hinter ihm. Sie und Mary standen im Flur und bereiteten den Gegenzauberspruch vor, den sie in der Bücherei gefunden hatten. Bartows Freund, der Professor aus Berkeley, hatte ihn für sie übersetzt.
„Ja, ich weiß“, schnauzte Samuel über die Schulter, während er hastig vor dem Geist zurückwich. „Ich hatte nur gehofft, er zuckt ein wenig zusammen. Handfeuerwaffen waren im feudalen Japan nicht gerade alltäglich.“
Bartows ausführliche Notizen erzählten von einem Samurai ohne Herren namens Yoshio Nakadai, der im neunzehnten Jahrhundert in Japan gelebt hatte. Er trug den Beinamen Doragon Kokoro, was ‚Herz des Drachen‘ hieß.
Bingo.
Sie berichteten von seinem Tod, wahrscheinlich durch die Hand eines Dämons. Sie besagten auch, dass sein Geist durch einen Abkömmling wieder erweckt werden konnte, wenn er den richtigen Zauberspruch einsetzte. Ein Teil des Zauberspruchs hatte sich unter den Papieren der Bücherei gefunden.
Weil Chao Halbjapaner war, war es möglich, dass er mit Nakadai verwandt war.
Die Tatsache, dass ein Dämon für Nakadais Tod verantwortlich war, erklärte die Schwefelrückstände. Bartow hatte keine anderen Vorzeichen für dämonische Aktivitäten gefunden. Das war jedenfalls sehr ungewöhnlich. Also war für ihn und die Campbells eine Verbindung zur Herkunft des Geistes wahrscheinlicher als die zu einer dämonischen Aktivität.
Unter den Texten befand sich ebenfalls ein Zauberspruch, der den Geist zurückschicken konnte – und er war vollständig. Es bannte den Geist nicht für immer, aber es war besser als die Alternative …
Die wertvollste Information, die sie bei ihren Recherchen fanden, war eine Anforderungskarte der Öffentlichen Bücherei von San Francisco. Bartow hatte sie sofort eingesteckt, weil sie Namen und Adresse der Person enthielt, die das Buch zuletzt ausgeliehen hatte.
Albert Chao.
Als sie erst einmal den Gegenzauber abgeschrieben und die Materialien für seine Ausführung besorgt hatten, gingen sie direkt in Chaos Wohnung. Sie hofften ihn aufzuhalten, bevor er das Herz des Drachen anwies, noch jemanden zu töten. Im Moment sah es so aus, als könnte es Samuel sein, obwohl er einem kraftvollen Hieb des Geistes mit dem Katana gerade noch ausweichen konnte.
Samuel legte eine Hand an die Wange. Sie war noch warm von der Nähe der Flammen. Es war merkwürdig – obwohl er die Hitze spüren konnte, hatte das Feuer noch nicht die Wohnung in Brand gesetzt.
„Wie geht es denn mit dem Zauberspruch voran, kleines Fräulein?“, rief Samuel Mary zu.
„Nenn mich nicht so!“, antwortete sie aus dem Flur. Dann erschien sie in der Tür. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Stück Papier, auf dem die Worte des Zauberspruchs phonetisch aufgeschrieben waren. In der linken Hand hielt sie pulverisierte Kihada-Wurzel, die sie in einer kleinen Drogerie in Japantown erstanden hatten.
Das Herz des Drachen schwang erneut das Schwert.
Samuel stolperte über einen klapprigen Stuhl, als das Katana bereits seine Glatze versengte. Die Wohnung war spärlich möbliert, zudem sehr klein, und schnell fand Samuel keine Deckung mehr.
„Wo ist das verdammte Claymore-Schwert?“, fragte er Deanna, die zwischen ihm und Mary stand.
„Bist du wahnsinnig geworden? Das ist ein Katana! Das schneidet das Claymore locker durch!“
Der Geist schwang sein Flammenschwert und kam auf ihn zu. Ohne dass Samuel es bemerkt hatte, stand er plötzlich mit dem Rücken zur Wand.
Er hörte eine Stimme. Mary sprach die Formel leise, um die Worte richtig auszusprechen. Er wusste, dass sie es richtig machen musste, damit es klappte. Aber wenn sie sich nicht beeilte, würde er aufgespießt und verkohlt werden.
Samuels Gedanken rasten. Da war ein Fenster in der Nähe, aber ein kurzer Blick zeigte, dass es nicht das zur Feuertreppe war. Albert wohnte im fünften Stock, also kam aus dem Fenster zu springen nicht infrage.
In den Augenblicken, bevor das Wesen zuschlug, wünschte er von Herzen, dass der Schuss Alberts Macht über den Geist gebrochen hätte.
Verdammt.
Der Krieger erhob sein Katana. Hitze dämonischer Flammen zuckten über Samuels Gesicht. Er war fast versucht, einen Schuss abzufeuern, nur um zu sehen, was passieren würde. Aber er wusste, dass er nur eine Kugel verschwenden würde.
Und jetzt würde er ertragen, was er konnte, weil er sich nirgendwo hinducken konnte, keinen Ausweg mehr hatte …
Er hob die Pistole.
Mary beendete die Formel und warf die pulverisierte Wurzel in die Flammen, die den Ronin umgaben.
Der Geist hielt das Katana noch erhoben, warf seinen Kopf in den Nacken und schrie. Die Flammen wurden heißer und Samuel hielt sich die Hände vors Gesicht, um die brennende Hitze abzuwehren.
Ein Lichtblitz.
Dann nichts.
Mary grinste.
„Ich glaube, das hat geklappt“, sagte sie triumphierend.
„Fürs Erste“, erwiderte Deanna. „Erinnere dich daran, was der Professor gesagt hat: Der Zauberspruch verbannt den Geist für zwanzig Jahre.“
Mary zuckte die Schultern.