Выбрать главу

Wolfgang Hohlbein

Das Herz des Waldes

Gwenderon – Cavin – Megidda

Drei Romane in einem Band

Gwenderon

Im Herzen der Welt,

dort, wo alle Flüsse ihren Ursprung haben,

dort, wo alles Leben herkommt, und dort,

wohin es zurückkehrt, wenn seine Zeit gekommen ist,

liegt er.

Der Wald, Der War, Der Ist,

Und Der Sein-Wird.

Er ist alt.

Und in seinem Herzen,

dort, wo keines Menschen Fuß jemals den Boden betreten,

dort, wo keines Menschen Stimme

jemals die heilige Stille gestört,

wo keines Menschen Auge jemals den grüngoldenen

Schimmer des Lichtes erblickt, das sich schwarz

auf ihren Mauern bricht, liegt die Festung.

Sie ist alt.

Niemand weiß, wer sie erbaute.

Niemand weiß, welchem Zweck sie dient.

Ihr Name ist Megidda.

Ihre Mauern sind schwarz, von der Farbe der Nacht,

wenn sie am tiefsten ist.

Ihre Türme sind hoch, den Himmel berührend,

doch nicht ganz.

Ihr Name ist Megidda, doch für die Menschen

lautet er

Tod.

Es heißt, dass einst ein Mann kommen wird,

ein Kind noch, und doch schon ein Held, der sie findet.

Einst, wenn die Zeit der Menschen gekommen ist.

Und die unsere.

Legende der Raett-Nomaden

1

Etwas war anders geworden. Gwenderon wusste nicht, was es war, aber etwas hatte sich verändert, so deutlich, dass er es spuren konnte wie einen unangenehmen Geruch, der plötzlich zwischen den Bäumen hing, wie unsichtbarer Nebel aus dem Boden aufsteigend und sich ihm immer entziehend, wenn er versuchte, ihn zu erkennen. Aber es war da.

Gwenderon zügelte sein Pferd. Er war vorausgeritten, nicht sehr weit, nur ein paar Dutzend Schritte, aber doch in dieser sonderbaren Umgebung aus dunkelgrünen Schatten und Schweigen weit genug, um den Blicken der anderen entzogen zu sein. Von allem hier war es vielleicht das, woran er sich niemals wirklich gewohnt hatte, und was ihn – manchmal, so wie heute – noch immer mit dem gleichen Schauder von Ehrfurcht auf der einen und nackter Angst auf der anderen Seite erfüllte wie am allerersten Tag. Irgendetwas stimmte hier mit den Entfernungen nicht. Gleich, wie weit man sich voneinander entfernte, ob zehn Schritte oder zehntausend, der Unterschied war nicht zu fassen. Im gleichen Moment, in dem er die imaginäre Zehnschrittegrenze zum Rest des kleinen Trupps überschritten hatte, war er verschwunden für ihre Augen, so, wie es sie für ihn nicht mehr gab. Zehn Schritte, von einem Ende der Kolonne zum anderen, nicht mehr. Alles, was dahinter lag, verschwamm in Schatten und düsterer Entfernung und dem Raunen des Waldes, als gäbe es da irgendjemanden oder etwas, der ihnen erlaubte, genau so weit und nicht weiter zu sehen. Der Teil ihrer Welt, den mit hierher zu bringen ihnen gestattet war, war klein.

Aber das war es nicht.

Nicht heute.

Gwenderon richtete sich ein wenig im Sattel auf und sein Pferd reagierte auf die Bewegung mit einem nervösen Hufscharren. Die kleinen Metallschuppen, mit denen der Nackenschutz gepanzert war, klirrten, als es unruhig den Kopf bewegte. Gwenderon beugte sich vor und kraulte flüchtig seine Ohren, aber das Tier beruhigte sich nicht; ganz im Gegenteil. Sein Schweif begann unruhig zu peitschen, als schlüge es nach Fliegen oder Mucken, die nicht da waren, und seine Nüstern blähten sich erregt. Den meisten anderen Männern waren diese kleinen Zeichen kaum aufgefallen; Gwenderon schon. Er ritt dieses Pferd seit einem Jahrzehnt. Es war hier so zu Hause wie er. Und so fremd.

Dann erkannte er, was es war.

Es war die Stille.

Ein Schweigen sehr sonderbarer, irgendwie stofflicher Art, das sich wie eine unsichtbare Decke über dem Wald ausgebreitet hatte. In den Wipfeln der Bäume sang noch immer der Wind sein nie endendes Lied und dann und wann drang das leise Plätschern und Murmeln des Wildwasserbaches, den sie vor einer halben Stunde durchschritten hatten, an Gwenderons Ohr. Es waren nur die Geräusche des Waldes zu hören: das Knacken von trockenen Zweigen und Laub unter den Hufen ihrer Pferde, das Rascheln der Blätter, das sanfte Flüstern des Unterholzes, das Geschichten erzählte, die älter waren als dieser Wald, das Tröpfeln von Tauwasser auf laubbedecktem Boden. Und trotzdem schien es ihm, als wären sie in einem Kreis von Schweigen und Stille gefangen. Der Wald atmete zwar noch, aber seine Bewohner waren verstummt. Kein Vogel zwitscherte. Die Schatten hatten aufgehört, auf weichen Pfoten vor ihnen zu fliehen. Und selbst das Rascheln und Wispern der Insekten, das leise Tappen weicher kleiner Pfoten, das unhörbare Öffnen verschlafener Augenlider, deren Besitzer träge nach den dreisten Eindringlingen in ihr verbotenes Reich Ausschau hielten – all die Millionen und Abermillionen kleiner, einzeln nicht wahrzunehmender Laute, die zu diesem Wald gehörten wie die mannsdicken schwarzen Stämme und der undurchdringliche Baldachin aus Blättern, zu dem sich seine Wipfel verwoben, waren verstummt.

Irgendetwas ist geschehen, dachte Gwenderon. Und auf absurde Art erfüllte ihn dieser Gedanke mit einem tiefen, beinahe lähmenden Schrecken.

Gwenderon schrak hoch, als sich das Unterholz neben ihm teilte und Karelian hervortrat. Wie immer war der Fährtenleser so leise, dass Gwenderon seine Schritte selbst jetzt nicht hörte. Der grauhaarige Mann mit dem scharf geschnittenen, aber nicht unsympathischen Gesicht und den dunklen Augen hatte sein Leben in diesem Wald verbracht. Er war hier geboren und aufgewachsen und im Laufe der Jahre selbst zu einem Teil des Waldes geworden, zu einem Wesen, das sich so still bewegen konnte wie die Schatten, in denen er lebte. Die Lautlosigkeit, mit der er sich zu bewegen vermochte, hatte manchmal etwas Unheimliches an sich.

Gwenderon rief sich beinahe schuldbewusst ins Gedächtnis zurück, dass dies der Grund war, aus dem Karelian ihn und die Garde begleitete. Sie waren eine mächtige Streitmacht, aber in diesem Teil des Schwarzeichenwaldes herrschten Gesetze, die anders waren als die, nach denen er bisher gelebt hatte. Ein Heer von hundert gepanzerten Lanzenreitern mochte in der grünbraunen Düsternis des Waldes auf ewig verschwinden, während ein einzelner Mann wie Karelian eine Chance hatte, sein Ziel unbehelligt zu erreichen. Sie brauchten ihn, so dringend wie die Lebensmittel in ihren Satteltaschen und das Wasser in ihren Schläuchen. Vielmehr dringender, denn dies beides ließ sich ersetzen und sie konnten eine Weile ohne es auskommen – was auf Karelian ganz und gar nicht zutraf.

Trotzdem erschrak er immer wieder, wenn der grauhaarige Waldläufer lautlos auftauchte. Vielleicht, dachte er, weil ihm in solchen Augenblien immer ganz besonders deutlich zu Bewusstsein kam, wie sehr sie alle Karelian ausgeliefert waren.

»Gwenderon?«

Gwenderons Pferd scheute ein wenig, als die Stimme des Waldläufers wie der Klang von schneidendem Eisen in die Stille des Waldes brach, aber Gwenderon brachte das Tier mit einem kurzen, harten Ruck am Zügel wieder zum Stehen und sah Karelian fragend an. »Ja?«

Karelian wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. »Da ist etwas, das ich Euch zeigen muss«, sagte er. »Ich glaube, es ist wichtig.«

Gwenderon runzelte die Stirn. Für Karelian waren diese beiden Sätze eine ungewöhnlich lange Rede. Der Waldläufer sprach beinahe nie, und wenn er es doch tat, dann beschränkte er sich auf das Nötigste. Seine abgehackte, knappe Art zu reden hatte während der ersten Tage Anlass zu zahllosen Witzeleien unter den Männern gegeben. Sein Anliegen muss wirklich wichtig sein, dachte Gwenderon. Das ungute Gefühl in seiner Magengrube verstärkte sich.

Trotzdem nickte er, wandte sich halb im Sattel um und blickte den Weg zurück, den er gekommen war. Einen Moment lang fragte er sich, wie ihn Karelian überhaupt gefunden hatte, verfolgte diesen Gedanken aber nicht zu Ende – einem Ende, das ohnehin nur zu Verwirrung geführt hätte –, sondern wartete reglos, bis die Spitze der kleinen Kolonne aus den Schatten des Waldes auftauchte.