Lassar.
Resnec sprang von seinem Pferd und wollte auf die Knie fallen, aber der Schattenkönig hielt ihn mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. »Sprich!«
»Ich … habe getan, was Ihr befohlen habt, Herr«, sagte Rescknec, ohne die schwarz gewandete Gestalt seines Meisters – oder gar sein Gesicht – anzublicken. »Aber es war, wie ich befürchtet hatte. Er weigert sich.«
»Dieser Narr.« Lassars Stimme war vollkommen kalt, ohne jegliches Gefühl. Resnec war nicht einmal sicher, ob der Herr der Schatten überhaupt in der Lage war, Gefühle zu empfinden. »Dieser starrköpfige, blinde alte Mann. Glaubt er im Ernst, sich meinem Willen widersetzen zu können?« Jetzt erkannte Resnec doch eine Gefühlsregung in der Stimme Lassars: Überrackschung.
»Hochwalden ist stark, Herr«, erinnerte Resnec, wobei er sich hütete, auch nur den Anschein eines belehrenden Tones in seiner Stimme laut werden zu lassen. »Und er hat Faroan. Ich habe ihn nicht zu Gesicht bekommen, aber ich hörte, dass er ein mächtiger Magier ist. Der letzte der Waldzauberer.« Diesen letzten Satz unterstrich er mit einer genau berechneten Mickschung aus sanftem Spott und Zweifel, aber Lassar reagierte ganz anders darauf, als er erwartet hatte.
»Der Mächtigste überhaupt«, sagte er. »Und doch nicht mächtig genug.« Plötzlich lachte er. »So sei es, Resnec. Oro hat es nicht anders gewollt. Du weißt, was du zu tun hast.«
Resnec antwortete nicht sofort, aber Lassar schien auch so zu spüren, was in seinem Statthalter vorging. Ein kaltes, böses Lächeln erschien auf seinen Zügen, ein Lächeln, das Resnec spürte, ohne ihn anblicken zu müssen. »Du hast Angst?«
»Das nicht«, sagte Resnec hastig. »Es ist nur …« Er schwieg einen Moment, blickte fahrig hierhin und dorthin – überallhin, nur nicht in das Schattengesicht unter der Kapuze – und verfluchte sich, nicht sofort geantwortet und damit Lassars Misstrauen geschürt zu haben. Jetzt würde er seine Bedenken aussprechen müssen und sich damit vielleicht seinen Unmut zuckziehen.
»König Oro ist ein mächtiger Mann«, begann er vorsichtig. »Sein Reich ist klein und er hat nur ein paar hundert Krieger, aber …«
»Aber er hat mächtige Freunde, wolltest du sagen«, sagte Lassar, als Resnec nicht weitersprach. Resnec senkte den Blick noch weiter.
Lassar lachte leise. »Oh ja, ich weiß, mein Freund. Alle Reiche diesseits der Berge würden wie ein Mann aufstehen und sich gegen uns wenden; oder uns zumindest die Gefolgschaft verweigern. Würde ich auch nur einen Kiesel aufheben und nach Hochwalden werfen – das ist es doch, was du fürchtest, nicht?« Wieder lachte er und diesmal war es ein kalter, harter Laut, ein Geräusch, als klirrten Eisstüchen in einem Becher aus Metall, das Resnec erschauern ließ.
»Ich weiß das alles, mein Freund«, fuhr Lassar fort. »Das und noch ein paar Dinge. Der Schwarzeichenwald ist heilig. Noch nie hat es jemand gewagt, die Hand gegen ihn oder seicknen Beschützer zu erheben. Täte es einer, würden sich alle Völker und Edlen gegen ihn erheben, vielleicht sogar die Kaste der Magier selbst. Er würde untergehen, selbst wenn er so mächtig wäre wie ich.« Er schüttelte den Kopf. Resnec spürte die Bewegung, obwohl er ihn noch immer nicht ansah. »Nichts von alledem wird geschehen, Resnec.«
»Aber wie …«
»Lass das meine Sorge sein«, unterbrach ihn Lassar. »Tu, was ich dir befohlen habe, und überlasse mir den Rest.«
Er sprach nicht weiter, und als es Resnec nach einer Weile wagte den Blick zu heben, war die Lichtung leer. Lassar war so lautlos gegangen, wie er gekommen war. Die Schatten hatten sich wieder hinter ihm geschlossen. Aber wie immer, wenn Resnec seinem dunklen Herrscher begegnet war, blieb ein unsichtbarer Hauch von Kälte und Dunkelheit zurück, als wäre ein winziger Teil der Welt, in der sich der Herr der Schatten bewegte, zurückgeblieben und löste sich nur zögernd auf, wie Rauch von einem übel riechenden Feuer aus Eingeweiden.
Ein leises, knackendes Geräusch unterbrach Resnecs Gedanken und ließ ihn herumfahren. Automatisch zuckte seine Hand zum Schwert. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende.
Das Unterholz rings um die Lichtung teilte sich beinahe lautlos, und eine Anzahl dunkler, allesamt hoch gewachsener Gestalten trat hervor. Resnec unterdrückte ein Stöhnen, als er sie erkannte.
Lassars Henker näherten sich ihm unterwürfig und blieben in respektvollem Abstand stehen, einen weit auseinander gezogenen Halbkreis großer, verschwommener Körper bildend. Keickner von ihnen sagte ein Wort oder regte sich auch nur noch, und trotzdem spürte Resnec die stumme Bedrohung, die von dem Dutzend Giganten ausging, mit der Intensität eines körpercklichen Schmerzes. Es war keine Androhung, die ihm gegolten hätte, sondern etwas Finsteres, Aggressives, das so zu ihrem Sein gehörte wie ihr unangenehmer Geruch und die flachen, unter wulstigen Helmen verborgenen Gesichter, eine Feindseckligkeit, die allem Lebenden, Fühlenden galt. Viel mehr noch als Lassar waren sie Teile der Schattenwelt, denn während der Finstere Herrscher nur dann und wann in das Reich der Schatten eindrang, waren sie Geschöpfe jener Welt, Wesen ohne Sein, die alles hassen mussten, was lebte und dachte. Auch er – ja, sogar Lassar selbst war von diesem Hass nicht ausgenommen. Er wusste, dass sie ihm gehorchen würden, selbst wenn er sie in die Vernichtung schickte, stumm und ohne zu protestieren, ohne nach dem Warum und Wenn seiner Befehle zu fragen, präzise und zuverlässig wie Maschinen.
Und trotzdem war alles, was er bei ihrem Anblick empfand, Angst.
6
Mit dem ersten Licht des neuen Tages ritten sie weiter. Gwenderon war schon eine Stunde vor Sonnenaufgang auf den Beicknen gewesen, denn er hatte keinen Schlaf mehr gefunden, nachdem er gegen Mitternacht aufgewacht war und schließlich doch sein Zelt auseinander gerollt und aufgebaut hatte. Die Kälte, einmal in seine Knochen gekrochen, hatte sich darin festgebissen wie eine tollwütige Ratte, und er war ein Dutzend Mal während der verbliebenen Stunden wieder aufgewacht, zitternd und jedes Mal schlechter gelaunt. Als er kurz vor ihrem Aufbruch sein Pferd sattelte und ihn ein Mann aus der Garde versehentlich stieß, fuhr er herum und schrie ihn dermackßen an, dass für einen Moment jede Bewegung auf der Lichtung erstarb und sich aller Blicke auf ihn richteten. Gwenderon entschuldigte sich sofort für seine Unbeherrschtheit und der Krieger nahm seine Entschuldigung an. Aber seine Laune sank um weitere Grade.
Hinzu kam, dass Karelian nicht zurückgekommen war. Gwenderon war nicht erstaunt gewesen, ihn während des vergangenen Tages nicht mehr zu sehen; Karelian war tagsüber zwar meist irgendwo in der Nähe der Kolonne, aber selten bei ihr. Trotzdem war er bisher jeden Abend zu ihnen gestoßen, um sich einen Platz am Feuer zu suchen und zu schlafen. Gestern nicht. Gwenderon gestand es nicht einmal sich selbst gegenüber ein – aber Karelians Fernbleiben bereitete ihm mehr Sorge, als ihm lieb war. Er dachte an Raettspuren und einen großen, zottigen Schatten, aus dem glühende Augen auf ihn herabgestarrt hatten.
Genau wie er es erwartet hatte, waren es Cavins so genannte Freunde, die den Aufbruch wieder einmal verzögerten. Es dauckerte eine halbe Stunde, bis auch der Letzte von ihnen sein Lager abgebrochen hatte und im Sattel saß. Und jetzt, als es endcklich so weit war im noch grauen Licht des Morgens, in der Kälte und melancholischen Stimmung, die die ersten Minuten eines neuen Tages begleitete, kamen sie ihm mehr denn je wie ein Haufen jämmerlicher Gestalten vor, wie sie auf ihren Pferden hockten, vornübergebeugt oder unruhig hin und her rutckschend, weil die Haut unter ihren schönen ledernen Hosen wund geritten und blutig war, mit grauen Gesichtern, in denen Müdigkeit und Erschöpfung um den ersten Rang kämpften. Sie gehörten nicht hierher. Noch viel weniger als er und seine Begleiter.
Es war sicher kein Zufall, dass Cavin so weit von ihm entfernt ritt, wie es überhaupt nur möglich war, wollte er sich nicht direkt von der Truppe entfernen. Und Gwenderon glaubte seine halb zornigen, halb herablassenden Blicke regelrecht zu spüren, ebenso wie er die geflüsterten Worte dieser Lackaffen zu hören glaubte, die in Cavins Begleitung waren. Es ärgerte ihn, obwohl er wusste, wie lächerlich sein Verhalten im Grunde war.