»Du solltest ein wenig schlafen«, sagte Cavin vorwurfsvoll. »Wenn du willst, wache ich solange neben ihr.«
Karelian schüttelte den Kopf. »Das ist … sehr freundlich, Herr«, sagte er stockend. »Aber ich möchte hier bleiben.« Er schwieg einen Moment, sah auf und blickte Cavin an. Aber seine Augen blieben matt. Cavin war nicht sicher, dass er ihn überhaupt wahrnahm. »Ich möchte, dass sie mich sieht, wenn sie aufwacht.«
»Wie du willst.« Cavin ließ sich behutsam auf die Bettkante sinken, griff nach den Fingern der Schlafenden und zog die Hand fast hastig wieder zurück, als er spürte, wie heiß und trocken ihre Haut war.
»Das Fieber sinkt nicht«, sagte Karelian düster. »Arcen hat gesagt, es müsse zurückgehen. Aber es bleibt. Es frisst sie auf.«
Cavin widersprach nicht. Es wäre lächerlich gewesen, das Offensichtliche zu leugnen. Arcen hatte ihm gesagt, wie es um Animah stand: Nach seinem Wissen – und dem der Raetts – hätte das Fieber sinken müssen. Aber es sank nicht. Animah wurde schwächer mit jeder Stunde, die verging.
»Wer ist sie?«, fragte er plötzlich.
Karelian sah auf; verwirrt.
»Ich … ich habe dich niemals nach ihr gefragt«, sagte Cavin. »Sie hat ihr Leben riskiert, um meines zu retten, und ich habe nicht einmal gefragt, wer sie ist, Karelian.«
»Nicht Euer Leben, Herr«, antwortete Karelian. »Den Wald.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Cavin sanft. »Wer ist sie. Deine … Frau?«
Er erkannte an der Reaktion auf Karelians Gesicht, wie dumm seine Frage gewesen war. Für einen ganz kurzen Mockment sah es so aus, als wolle Karelian in schallendes Gelächter ausbrechen, dann wirkte er betroffen, ja, beinahe verlegen. Er schüttelte den Kopf.
»Meine Tochter«, sagte er leise. »Meine Frau starb schon vor langer Zeit, Herr. Der Wald hat sie getötet. Ein Jahr, bevor Ihr geboren wurdet.«
Cavin spürte einen eisigen Schauer. Mit einem Male kam er sich schäbig vor, die Frage überhaupt gestellt zu haben. Er hatte Karelian verletzt, das spürte er; sehr viel tiefer, als der Waldckläufer zugeben wollte.
»Verzeih«, murmelte er. »Ich wollte –«
»Ihr konntet es nicht wissen«, unterbrach ihn Karelian. Er sah ihn nicht an. »Niemand weiß es.«
»Ich weiß sowieso sehr wenig über dich«, flüsterte Cavin. »Über euch alle.«
Karelian antwortete nicht und nach einer Weile begriff Cavin, dass er nicht bereit war weiter über dieses Thema zu sprechen. Vielleicht hatte er schon mehr über Karelian erfahren, als diesem recht war; mehr, als er preiszugeben bereit war. Mit einem Male kam sich Cavin unendlich einsam vor. Er war umgeben von Männern, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um das seine zu schützen, und er war trotzdem ein Fremder. Er wusste nichts von ihnen. Weder von Karelian noch von irgendeinem der anderen. Von vielen kannte er nicht einmal die Namen. Der Einzige, dachte er betrübt, den er einigermaßen gekannt hatte, war Gwenderon gewesen. Und der war fortgegangen.
Mit einem Ruck stand er auf, lief aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu, durchquerte auch den angrenzenden Saal und lief so schnell auf den Gang hinaus, dass er um ein Haar den Posten über den Haufen gerannt hätte, der vor der Tür stand. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Tonnen und Tonnen von Fels, die ihn umgaben, schienen ihn zu erdrücken.
Erst als er das Gebäude verlassen hatte und wieder im Freien war, beruhigte er sich halbwegs. Sein Herz jagte noch immer und er hätte vor Unsicherheit und Verzweiflung schreien können, aber er hatte sich wenigstens wieder so weit in der Gewalt, stehen zu bleiben und sich – zumindest äußerlich – zur Ruhe zu zwingen.
Was geschieht mit mir?, dachte er verzweifelt. Er hatte das Gefühl, die Welt um sich herum zerbrechen zu sehen. Alles, woran er geglaubt, alles, was er besessen und geliebt hatte, war zerstört und verloren. Und das Wenige, das ihm geblieben war, zerrann unter seinen Fingern wie Sand.
»Cavin!«
Cavin sah auf, als er den Ruf hörte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und erkannte Guarr, der ungeschickt auf ihn zugehumpelt kam. In seiner Begleitung befand sich ein etwas kleinerer, dürrer Raett, der mit seiner hohen, quietschenden Stimme unentwegt auf ihn einredete. Cavin blickte den beiden ungleichen Wesen einen Moment verwirrt entgegen, ehe er auf sie zuging. Guarr lief sehr schnell, obwohl Cavin wusste, wie viel Mühe ihm jede überflüssige Bewegung bereitete seit seiner Verwundung.
»Guarr, Freund, was ist geschehen?«, begann er.
»Nichts Gutes, Cavin«, antwortete Guarr. »Ich habe Nachricht von Gesset. Lassar hat uns betrogen.«
Cavins Bedrückung wich eisiger Furcht. »Nachricht?«, murmelte er. »Was … was ist geschehen?«
»Was Gwenderon prophezeit hat«, antwortete Guarr keuchend. »Er hatte Recht, Cavin. Lassar hat gelogen. Seine Trupckpen haben den Fluss verlassen und sind in den Wald eingedrungen.« Er brach ab, rang keuchend nach Luft und deutete auf den schmalgesichtigen Raett neben sich. Cavin sah erst jetzt, wie erschöpft und abgerissen der Riesennager war. »Hackat hier gehört zu Gessets Sippe. Er … er ist gekommen, so schnell er konnte. Aber sein Vorsprung ist nicht sehr groß.«
Cavin begriff noch immer nicht ganz, was Guarr überhaupt gesagt hatte. Das hieß – er begriff es schon. Aber er weigerte sich einfach, es zu glauben. Es war unmöglich. Es durfte einfach nicht sein!
»In den … Wald eingedrungen?«, wiederholte er verstört. Seine Hände fühlten sich kalt an. Eiskalt. Es war eine Kälte, die ganz langsam in seinen Körper kroch. »Wo?«
»An der großen Biegung, Cavin«, antwortete Guarr. »Keine dreißig Meilen von hier entfernt.«
»Aber das … das ist unmöglich«, stammelte Cavin. »Das kann nicht sein, Guarr. Lassar weiß nicht, wo diese Burg ist. Niemand … niemand weiß es. Und selbst wenn, könnte er niemals hierher gelangen. Nicht … nicht mit seinen Kriegern!« Die letzten Worte hatte er hervorgestoßen wie einen verzweifelten Schrei. Narr, hämmerten seine Gedanken. Verdammter, blinder Narr! Das ist es gewesen, was er wollte. Die Megidda. Vom ersten Augenblick an. Guarrs Gestalt begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Sein Herz schlug ganz langsam, aber so hart, dass es wehtat.
»Wann … werden sie hier sein?«, fragte er stockend.
»Morgen«, antwortete Guarr. »Meine Brüder versuchen sie aufzuhalten, aber wir sind nicht genug. Wenn die Sonne aufgeht, sind sie hier.«
19
Eine weiche Hand lag auf seiner Stirn; warm, voller kurzem, drahtigem Fell und Kraft, und trotzdem sehr sanft. Er lag auf dem Rücken, aber der Grund, auf dem er lag, bewegte sich: eine Trage, die zwischen zwei Pferde gespannt war und sanft hin- und herschaukelte.
Nach dem Erwachen hätte der Schmerz kommen müssen; mit einiger Verzögerung, aber dafür umso größerer Wucht, so war es jedes Mal gewesen, wenn er verwundet worden war. Diesckmal blieb er aus. Alles, was er fühlte, war ein dumpfer, im Takt seiner Atemzüge rhythmisch an- und abschwellender Druck in seiner rechten Seite.
Gwenderon öffnete mit einem unterdrückten Stöhnen die Augen. Es war dunkel; nicht das schattige Halbdunkel des Waldes, sondern das Blauschwarz der Nacht, nur hier und da von Inseln flackernder rötlicher Helligkeit durchbrochen, wo die Männer Fackeln entzündet hatten. Die Geräusche von Pferden waren um ihn; das Klirren von Metall und das Knarren von Leder und Zaumzeug. Ein scharfer, nicht einmal unbedingt unangenehmer Geruch, den er erst nach Augenblicken als den der Raetts erkannte. Dann identifizierte er auch die Hand, die noch immer auf seiner Stirn lag, und drehte mühsam den Kopf. Ein spitzes, von zwei grundlosen, großen Augen beherrschtes Gesicht blickte auf ihn herab.
»Gesset«, murmelte er. »Du … lebst?«
Der Raett bleckte die Fänge; eine Geste, die er den Menschen abgesehen hatte und die wohl ein Lächeln sein sollte. »Es gehört mehr dazu als ein abgetakelter Zauberer und ein tollpatckschiger Riese, einen Raett umzubringen«, sagte er. »Aber du solltest nicht sprechen. Deine Wunde …« Er sprach nicht weickter, aber die Geste, mit der er seine Worte unterstrich, sagte genug.