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Gwenderon hob mühsam den Kopf und blickte an sich hinab.

Er lag auf einer Trage zwischen zwei Pferden, wie er angenommen hatte. Jemand hatte ihm Wams und Hemd ausgezogen und sein Brustkorb war vom Nabel bis zum Hals unter einem straff angelegten Verband verborgen. Die rechte Hälfte des grauen Verbandstoffes war dunkel von seinem eigenen Blut.

»Beweg dich nicht«, sagte Gesset. »Wir haben dich verbunden, so gut es ging. Aber es ging nicht sehr gut. In ein paar Stunden bist du im Lager und beim Arzt.«

Gwenderon gehorchte. Selbst diese kleine Bewegung hatte ihn schon spürbar Kraft gekostet. Er bezweifelte, dass er in der Lage gewesen wäre, sich auch nur aufzusetzen.

»Hast du mich … gerettet?«, fragte er mühsam.

Gesset nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf und stieß einen schrillen Pfiff aus.

»Lassar ist verschwunden, als du seine Kreatur besiegt hast. Zusammen mit den anderen.«

Gwenderon begriff nicht gleich. Verwirrt hob er abermals den Kopf, erntete dafür ein tadelndes Kopfschütteln des Raett und fragte: »Wie meinst du das – mit den anderen?«

»Du weißt es nicht?«

Gwenderon schüttelte den Kopf. »Ich war bewusstlos«, erklärte er überflüssigerweise. »Ich erinnere mich an … an nichts. Da war der Krieger und … und …« Er brach ab, als er begriff, dass er nicht nur vergeblich nach Worten suchte, sondern wirklich keine Erinnerungen hatte. Er glaubte Lassar zu sehen, das Schattengesicht des finsteren Magiers, sein böses, hämisches Lachen, dann die Eisenlarve des gepanzerten Riecksen.

Es lebt nicht. Seltsamerweise waren die Worte des Raett das Deutlichste, woran er sich erinnerte. Sein Kopf begann zu schmerzen. Für einen winzigen Moment sah er ein Licht, hell wie die Sonne und von blendend blauer Farbe. Wenn er sich nur erinnern könnte! Da war das Heer und …

Gessets Hand löste sich von seiner Stirn, als sich der Raett im Gehen umwandte und etwas vom Sattelgurt des Pferdes löste. Gwenderon sah einen lang gestreckten Schatten, dann raschelte trockenes Leder – und seine Erinnerungen kamen mit fast schmerzhafter Wucht zurück, als er den mannslangen, knorrig gewordenen Stab in Gessets Krallen sah.

»Faroan!«, keuchte er. »Faroans Stab.«

Der Raett blinzelte, drehte den Stab hilflos in Händen und sah Gwenderon durchdringend an. »Der Stab des Magiers?«, fragte er.

Gwenderon nickte.

»Woher hast du ihn?«

»Aus … Faroans Grab«, gestand Gwenderon nach kurzem Zögern. »Ich habe ihn … genommen. In der Nacht, bevor wir aufbrachen.«

Gesset blickte ihn sekundenlang sehr ernst an. »Warum?«, fragte er.

»Warum?« Gwenderon überlegte einen Moment, dann vercksuchte er im Liegen mit den Achseln zu zucken. »Ich … weiß es nicht«, gestand er. »Es war … nun, ich dachte, er könnte mir helfen. Zum Teufel, Gesset – was ist geschehen? Dieser Stab hat den Krieger getötet, aber das ist doch kein Grund –«

»Er hat viel mehr getan, Gwenderon«, unterbrach ihn Gesset ernst. »Du warst bewusstlos und hast es nicht gesehen, aber das Heer …«

Er sprach nicht weiter, sondern drehte erneut den Stab in der Hand und starrte abwechselnd ihn und Gwenderon an. Seine Augen wurden groß vor Furcht.

»Was ist mit dem Heer, Gesset?«, fragte Gwenderon. »Sprich!«

Der Raett seufzte. »Es ist verschwunden«, stieß er schließlich hervor. »Nicht das ganze Heer, aber sehr viele. Vielleicht taucksend Männer.«

»Verschwunden?« Gwenderon stemmte sich erstaunt auf die Ellbogen hoch. »Was soll das heißen?«

»Ich verstehe es ja selbst nicht«, antwortete der Raett. »Nieckmand versteht es. Sicherlich irgendeine neue Teufelei Lassars. Aber jetzt, wo ich weiß, dass dies Faroans Stab ist …«

»Was soll das heißen, verschwunden?«, fragte Gwenderon erneut, als Gesset auch diesmal nicht weitersprach. »Tausend Mann können nicht einfach verschwinden, Gesset.«

»Bis vor ein paar Stunden dachte ich das auch«, sagte Gesset ruhig. »Aber genauso war es, Gwenderon. Sie sind verschwunden, im gleichen Moment, in dem du den Dämon getötet hast. Einfach« – er schnippte mit den Fingern – »so.«

Gwenderon starrte ihn an. Die Worte des Raett schienen hinter seiner Stirn widerzuhallen; einmal, zweimal – immer und immer und immer wieder.

»Verschwunden«, murmelte er noch einmal. »Wie … wie viele sind noch da, Gesset?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie nicht gezählt!«, schnappte der Raett gereizt, hob gleich darauf entschuldigend die Hände und versuchte sein Rattengesicht zu einem Lächeln zu verziehen. »Verzeih. Aber ich weiß es wirklich nicht, Gwenderon. Ich war froh, noch am Leben und so weit bei Kräften zu sein, dich davonschleifen zu können.« Er überlegte einen Moment. »Noch immer sehr viele, fürchte ich. Und sie sind auf dem Wege nach Norden. Ich verstehe nicht, was geschehen ist.«

»Aber ich«, murmelte Gwenderon.

Gesset blinzelte.

»Wenigstens … fürchte ich es«, fuhr Gwenderon, mehr zu sich selbst und mit bebender Stimme, fort. Plötzlich fuhr er auf. »Wo sind wir?«

»Nicht sehr weit vom Fluss entfernt«, antwortete der Raett. »Warum?«

Statt einer Antwort stemmte sich Gwenderon vollends in die Höhe, versuchte die Beine von der improvisierten Trage zu schwingen und wäre glatt von seiner schwankenden Unterlage heruntergestürzt, hätte Gesset ihn nicht blitzschnell mit der freien Hand gehalten.

»Was wird das?«, fragte der Raett. »Willst du dich umbringen?«

Gwenderon schob seine Hand beiseite, beugte sich vor, um sich am Sattelzeug eines der Pferde abzustützen, und versuchte ein zweites Mal aufzustehen. Gesset fluchte, brachte die beiden Pferde mit einem scharfen Befehl zum Stehen und fuhr zornig herum.

»Muss ich dich erst niederschlagen, damit du Ruhe gibst?«, fragte er.

Gwenderon ignorierte seine Worte. Taumelnd kam er auf die Beine, hielt sich mit der linken an der Mähne des Pferdes fest und presste die andere Hand gegen die verwundete Seite. Der dunkle Fleck auf seinem Verband wurde größer. Sein Gesicht war plötzlich voller Schweiß. »Cavin«, stöhnte er. »Ich muss … Cavin warnen.«

Gesset schien erneut widersprechen zu wollen, aber dann begegnete er Gwenderons Blick, und irgendetwas war darin, das ihn abrupt verstummen ließ.

»Du wirst dich umbringen«, sagte er, sehr leise und sehr ernst.

»Möglich«, stöhnte Gwenderon. »Aber vorher muss ich die Megidda erreichen. Bei allen Göttern, Gesset – ich weiß jetzt, was Lassar im Schilde führt. Dieser verdammte Teufel.«

Der Raett starrte ihn noch eine endlose Sekunde lang an, dann fuhr er herum und hob befehlend den Arm. »Ein Pferd für Gwenderon!«, befahl er. »Und eines für mich!«

20

Die Nacht hatte sich wie eine schwarze Decke über den Himmel gelegt. Die Luft roch nach Schnee und Kälte und der Wind war abermals aufgefrischt und hatte fast die Stärke eines kleicknen Sturmes erreicht. Die Böen brachen sich heulend an den Zinnen und Türmen der Burg und es war kalt, entsetzlich kalt. Cavin blickte aus vor Müdigkeit brennenden Augen nach Sückden. In der Nacht sahen die Wipfel des Waldes aus wie ein erstarrter schwarzer Ozean aus Teer und die Reiter, die tief unter ihm in einer schier endlosen Kette aus dem Tor kamen, um eine halbe Meile weiter im Wald zu verschwinden, wie winzige Spielzeugsoldaten, die von unsichtbaren Schnüren gezogen wurden. Guarrs Krieger hatten Feuer zwischen den Lavariffen entzündet, die der Megidda vorgelagert waren, aber von hier oben aus waren es nicht mehr als Funken, winzige glühende Augen, die verloren schienen in einem unendlichen Ozean aus Schwärze. Irgendwo, jenseits einer nicht genau lokalisierbaren Grenze auf halber Strecke zwischen dem Wald und der Burg, schien sich der Boden zu bewegen, als wäre er lebendig geworden. Und in gewissem Sinne war er das wohl auch.

Cavin verscheuchte das bedrückende Gefühl, mit dem ihn die Vorstellung erfüllte, wandte sich von der Mauer ab und lief mit schnellen Schritten die halb zerfallene Treppe zum Hof hinunter. Die Kälte ließ ein wenig nach, als er aus dem Wind heraus war, und auch das unheimliche Heulen und Wehklagen der Böen blieb über ihm zurück. Trotzdem fühlte er sich weiter wie in einem Traum gefangen, unwirklich und jenseits der Realität. Er war so müde.