Auch der Hof war voller Leben, hundert, vielleicht mehr Gestalten, die sich um den von Trümmern frei geräumten Bereich vor dem Tor drängten – die Männer, die noch vor wenigen Stunden alle Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen hatten und nun statt in die Freiheit in die Schlacht reiten würden; eine Schlacht zumal, die sie nicht gewinnen konnten. Im ersten Moment war Cavin überrascht, trotz der gedrückten Stimmung überall Lachen und Scherzen zu hören, aber dann kam er näher und sah in gespannte Gesichter, sah die kleinen nervösen Gesten, mit denen die Männer ihre Furcht zu überspielen suchten, und die Angst in ihren Augen. Keiner von ihnen würde den nächsten Morgen erleben und sie alle wussten es.
Und es war seine Schuld.
Er blieb abrupt stehen, drehte sich herum und versuchte den ummauerten Hügel in der Mitte der Riesenfestung zu erkennen und den gigantischen Baum, der sich darauf erhob. Aber er sah nichts als Schatten. Vielleicht hatte er sein Recht, das Allerheickligste zu erblicken, verspielt mit dem Fehler, den er begangen hatte.
Als er sich wieder umwandte, stand er Guarr gegenüber. Der Raett war so leise näher gekommen, dass er ihn nicht gehört hatte. Cavin widerstand der Versuchung, ihn zu fragen, wie lange er schon hinter ihm stand.
»Meine Brüder sind bereit«, sagte der Raett.
»Ich weiß.« Cavin dachte an den kabbelnden, lebenden Bockden außerhalb der Festung und schauderte. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wozu Guarrs »kleine Brüder« imstande waren, erst vor wenigen Tagen. Es mussten Millionen sein. Trotzdem wusste er, dass sie versagen würden. Lassar wäre nicht Lassar, hätte er nicht auch diesen Gegner einkalkuliert.
»Du weißt, dass sie alle sterben werden«, murmelte er, so leickse, dass außer Guarr niemand die Worte hören konnte.
»Vielleicht«, antwortete der Raett. »Vielleicht auch du und ich und alle deine Menschenbrüder.«
»Das … das ist etwas anderes«, sagte Cavin stockend. »Dies hier ist unser Kampf, Guarr. Noch könnt ihr gehen.«
»Gehen?« Guarr tat so, als verstünde er nicht.
»Gehen«, bestätigte Cavin ruhig. »Es ist noch Zeit, bis Lassars Heer heran ist und sich der Kreis um die Festung schließt. Keiner von uns würde es euch verübeln, wenn ihr vorher gehen würdet.« Er kam sich selbst albern bei diesen Worten vor. Guarr und seine Raetts und die Armee von Tieren, die ihnen beistand, waren das Einzige, was noch zwischen ihnen und Lassar stand. Ohne die Raetts waren sie keine hundert Mann. Und er wusste auch, dass Guarr seinen Vorschlag ablehnen würde. Trotzdem war er es ihm – und sich selbst – einfach schuldig gewesen, ihn zu machen.
»Du meinst das ernst«, sagte Guarr leise.
Cavin nickte. Ganz plötzlich hatte er Angst, dass er sich getäuscht haben könnte; dass Guarr sein Angebot annahm. Trotzckdem fuhr er fort: »Du und dein Volk, Guarr, ihr tragt die Hauptlast in diesem Kampf. Ihr habt sie von Anfang an getragen. Und du weißt, dass keiner dieser Krieger zurückkehren wird, die du jetzt hinausschickst. Ich sage es noch einmal – es ist nicht euer Kampf. Wenn du willst, dann nimm deine Brüder und geh deiner Wege.«
»Meiner Wege?« Guarr legte den Kopf auf die Seite und sah Cavin auf sehr sonderbare Weise an. »Wenn dieser Ort in Lassars Hand fällt«, sagte er ernst, »dann wird es keine Wege mehr geben, die wir gehen könnten, König Cavin. Du hast Recht – es ist euer Streit, nicht unserer. Aber es ist unsere Welt, die vernichtet wird, wenn du ihn verlierst.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Cavin impulsiv. »Die Welt ist groß und –«
»Und voller Menschen«, unterbrach ihn Guarr. Er war sehr viel erregter, als nach Cavins Worten erklärbar schien. »Voller Menschen, die einander töten und bekämpfen und bestehlen und glauben, sie gehöre ihnen, diese Welt. Es gibt nichts, wockhin wir gehen könnten. Der Wald ist unsere Heimat. Er war es immer und er wird es immer bleiben.« Er ballte die Faust, und obwohl er alt und ein Krüppel war, war es eine Bewegung so voller Kraft, dass Cavin ganz instinktiv einen halben Schritt vor ihm zurückwich. »Wir sind wenig, König Cavin«, fuhr er fort, »aber wir werden kämpfen und wir werden siegen, denn der Wald steht auf unserer Seite. Wir werden siegen, wenn nicht heute, dann morgen oder in einem Jahr. Lassar hat mehr getan als sein Wort zu brechen. Keiner von denen, die er hierckher geführt hat, wird diesen Wald lebend verlassen.«
Cavin widersprach nicht. Trotz seiner entschlossenen Worte wusste Guarr, dass er sein Versprechen nicht einhalten konnte. Lassars Armee war zu mächtig, als dass er sie aufhalten könnte mit einer Hand voll Rattenkrieger und einem Heer aus Tieren. Er würde kommen und diese Festung nehmen und sie alle töckten, das wussten sie beide. Guarrs Worte waren ein Versprechen auf die Zukunft, mehr nicht. Aber um es einlösen zu können, mussten sie dort hinausgehen und sterben.
»Mein Pferd«, befahl Cavin laut.
Ein Krieger kam und brachte es, einen gewaltigen Hengst, gepanzert in die weißen und goldenen Farben Hochwaldens. Umständlich stieg Cavin in den Sattel, befestigte sehr sorgfältig den Schild mit dem roten Drachen Hochwaldens an seinem linken Arm, griff nach dem Speer, den ihm hilfreiche Hände reichten, und wartete, bis sich auch Guarr – umständlich und von einem halben Dutzend Männer unterstützt – in den Sattel seines eigenen Reittieres gezogen hatte. Jetzt, als sie wieder auf gleicher Höhe waren, kam er sich neben dem Raett vor wie ein Zwerg.
»Vielleicht solltest du hier bleiben, Guarr«, sagte er.
»Und mich vor diesen Menschen verkriechen?« Guarr machte eine zornige Geste zum Tor. »Wie kann ich meine Brüder in den Tod schicken und selbst zurückbleiben, Mensch?«
Cavin antwortete nicht mehr, sondern ritt los, sehr langsam zuerst, denn am Tor herrschte noch immer ein gewaltiges Geckdränge. Die Krieger stauten sich vor dem schmalen Durchgang wie Wasser in einer Flussenge, und obwohl Guarrs Leute den Auszug mit erstaunlichem Geschick regelten, würden noch endlose Minuten vergehen, ehe die Reihe an ihn und Guarr kam, die Megidda zu verlassen. Cavin fragte sich, ob er sie jemals wieder sehen würde. Plötzlich verspürte er eine absurde Ungeduld, sein Schwert ziehen und sich dem verhassten Feind stellen zu können. Wenn es schon nicht möglich war, dem Kampf auszuweichen, dann wollte er es hinter sich bringen, so schnell wie möglich.
Er blickte zur Burg zurück, die sich jetzt wie ein Stück gefrorener Nacht hinter ihm ausbreitete, und ein sonderbares Gefühl von Wehmut machte sich in ihm breit. Nur wenige Männer würden zurückbleiben – Karelian, dem er selbst befohlen hatte bei seiner Tochter zu wachen, obwohl sie seinen Bogen bitter nötig gehabt hätten, Arcen und die beiden anderen Heilkundigen, deren Leben sie nicht aufs Spiel setzen durften, weil es vielleicht nötig war, das zahlloser anderer zu retten, ein paar Verwundete und Kranke, drei oder vier von Guarrs Raett-Kriegern; alles in allem nicht einmal ein Dutzend Lebewesen, die in der steinernen Wüste der Megidda untergehen mussten. Für wenige kurze Monate hatten sie versucht Leben an diesen Ort ewigen Schweigens zu bringen. Der Versuch war misslungen.
Cavin verscheuchte den Gedanken, wandte sich mit einem Ruck um und sprengte los, als die Reihe an ihm war.
21
Zwei Stunden später trafen sie auf Lassars Heer. Gehört hatten sie es schon seit einer geraumen Weile: ein Laut, zuerst wisckpernd und weit entfernt, gedämpft wie das Rascheln einer sanfckten Brise in den Baumwipfeln, dann, ganz allmählich zuerst, anschwellend, lauter und drohender und aggressiver werdend, bis der ganze Wald unter dem Stampfen und Klirren tausender und tausender von Pferden zu erzittern schien.