Gwenderon fuhr überrascht zusammen und besah sich seinen Retter genauer. Natürlich war es unmöglich, ihn als den Schatten zu identifizieren, den Cavin angegriffen hatte – aber plötzcklich ergab alles einen Sinn. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Cavin noch ein wenig mehr erbleichte.
»Ihr seid uns gefolgt? Das … das warst du, vorhin im Wald?«
Der Raett ahmte ein menschliches Nicken nach und deutete mit einer unbestimmten Geste auf den Wald. »Gefahr«, sagte er. »Kommen.« Er wandte sich um, machte einen Schritt und blieb wieder stehen, um auffordernd zu Gwenderon zurückzuckblicken. Dann deutete er auf Cavin. »Menschenjunges mitkommen.«
»Wen meint er mit Menschenjunges?«, fragte Cavin gepresst. »Ich verspreche Euch, dass ich dieser Kreatur –«
»Und ich verspreche Euch«, unterbrach ihn Gwenderon, sehr leise, aber in einem Ton, der Cavin abrupt verstummen und ihn aus großen Augen anstarren ließ, »dass ich Euch hier und auf der Stelle die Tracht Prügel verabreiche, die Ihr schon lange braucht, mein Prinz, wenn Ihr nicht auf der Stelle ruhig seid.« Er lächelte beinahe freundlich, tauschte noch einen raschen Blick mit Norrot, den dieser wie immer verstand, wartete, bis der breitschultrige Unterhauptmann ein Stück schräg hinter den Prinzen getreten war und seine Waffe gezogen hatte, und ging auf den Raett zu.
»Ihr helfen, wir helfen.« Der Raett ahmte ein menschliches Nicken nach und deutete mit einer unbestimmten Geste auf den Wald hinter sich. »Weg schlecht«, sagte er. »Nicht gehen allein. Zwei allein, Gefahr. Zwei zusammen besser.« Es bereitete ihm offensichtlich große Mühe, seine Stimmbänder dazu zu zwingen, in der Sprache eines fremden Volkes zu sprechen und die richtigen Worte zu finden. Aber Gwenderon verstand trotzckdem, was er meinte.
»Du meinst, wir sind in Gefahr?«
»Ja«, fauchte Cavin. »In der, aufgefressen zu werden.«
Gwenderon ignorierte ihn schlichtweg. »Und du meinst, wir sollten besser zusammen reisen statt getrennt?«, fügte er hinzu.
Wieder ahmte der Raett ein menschliches Nicken nach. Plötzlich grinste er, wobei Gwenderon einen Blick auf zwei Reihen fast fingerlanger, einwärts gebogener Reißzähne erckhaschte, die die Grimasse eher drohend erscheinen ließen. »Wir stark«, sagte er. »Ihr Essen.«
Gegen seinen Willen musste Gwenderon lächeln. Er wusste wenig mehr über die Raett als die bloße Tatsache, dass es sie gab; ein böser Scherz der Natur, die versucht hatte den Menschen nachzuahmen, dabei aber in der Wahl ihrer Mittel gewaltig danebengegriffen hatte.
Jedenfalls war es das, was er bis jetzt geglaubt hatte. Aber vielleicht stimmte das nicht. Das wilde Äußere der Raetts verckleitete die meisten dazu, diese Wesen als bloße Ungeheuer oder bestenfalls als geistlose Tiere zu sehen. Aber der Raett, der jetzt vor ihm stand und sich abmühte menschliche Worte und Gesten nachzuahmen, war weder das eine noch das andere. Ganz und gar nicht.
»Wie ist dein Name, Raett?«, fragte er.
»Guarr«, antwortete das Wesen und grinste wieder sein breicktes Rattengrinsen, als hätte Gwenderon einen besonders guten Scherz gemacht. »Weg schlecht«, sagte er. »Du helfen, wir helfen. Komm.« Er trat ein Stück zurück, machte eine halbe Wendung und deutete mit einer seiner Krallenhände zum Weg zurück, aber ein gutes Stück weiter westlich als dort, wo der Tross wartete.
»Du willst doch nicht im Ernst mit diesem Monstrum gehen?«, fragte Prinz Cavin scharf. Er hatte – wieder einmal – Gwenderons Befehl missachtet und war hinter ihn getreten. Betont langsam wandte Gwenderon sich um und sah den Prinzen an.
»Und warum nicht?«, fragte er. »Dieser Wald ist gefährlicher, als es den Anschein hat, mein Prinz – das haben wir gerackde erlebt, nicht wahr?« Er deutete auf Guarr und den zweiten Raett. »Wenn sie uns töten wollten, hätten sie es geschickter anfangen können. Lasst uns wenigstens sehen, was er will.«
»Kommen«, sagte Guarr ungeduldig. »Alle sehen. Weg schlecht. Guarr helfen.«
Cavin setzte zu einer wütenden Entgegnung an, aber Gwenderon drehte sich herum und ging hinter dem Raett her, sodass Cavin ihm folgen musste, ob er wollte oder nicht.
Sie drangen etwa hundert Schritte weit zwischen den dicht stehenden Bäumen in den Wald ein, dann hob Guarr plötzlich die Hand, bedeutete ihnen mit Gesten, zurückzubleiben, und huschte allein weiter. Gwenderon kam nicht umhin, die Eleganz und Lautlosigkeit zu bewundern, mit der sich dieses grockße, scheinbar so plumpe Wesen zu bewegen vermochte.
Dann sah er etwas, was ihn den Raett schlagartig vergessen ließ.
Dicht vor ihnen, nur wenige Schritte jenseits der unsichtbaren Grenze, vor der Guarr ihnen anzuhalten geboten hatte, verckänderte sich der Wald. Etwas Dunkles, Kriechendes bedeckte den Boden, formlose Klumpen haariger Schwärze, hier und da eingewoben in ein graues, zartes Gespinst.
»Was ist das?«, flüsterte Cavin. Seine Stimme zitterte leicht.
Statt einer direkten Antwort hob Gwenderon die Hand und deutete nach oben, zu den Baumwipfeln hin. Auch dort war das graue Gespinst sichtbar, große, zerfetzte Schleier, die wie erstarrter Nebel zwischen die Bäume gespannt und von dunklen, manchmal hektisch hin und her flitzenden Punkten durchsetzt waren.
»Ihr Nest«, sagte Gwenderon leise. Aber das war unmöglich! Sie waren hundert Schritt vom Weg entfernt!
Guarr kam zurück. In seiner Hand zappelte ein fast faustgrockßes, dunkles Ding, das er erst Gwenderon, dann Cavin mit einem breiten Grinsen entgegenstreckte. Cavin gab einen keuchenden Laut von sich und sprang zurück. Sein Gesicht verckzerrte sich vor Ekel.
»Was soll das?«, schrie er.
»Nichts, mein Prinz«, sagte Gwenderon, trat rasch vor und drückte Guarrs Arm herunter, wobei auch er ein starkes Gefühl des Ekels unterdrücken musste, als er dabei beinahe das zapckpelnde Etwas in seiner Hand berührte. »Er wollte uns nur warnen.« Das Ekelgefühl verstärkte sich und kroch in seiner Kehle empor, als er sah, wie Guarr die Spinne fallen ließ und beinahe behutsam mit den Zehen zurück in die Richtung dirigierte, aus der er sie gebracht hatte. Das Tier blieb einen Moment benommen sitzen, schien den Raett aus seinen winzigen Facettenaugen vorwurfsvoll zu mustern und verwandelte sich plötzcklich in einen Ball aus wirbelnden Beinen, der so schnell davonhuschte, dass der Blick ihm kaum zu folgen vermochte.
Gwenderon atmete tief ein, um den sauren Geschmack von der Zunge zu bekommen, und wandte sich wieder an den Raett. »Wie ist das möglich?«, fragte er. »Sie … sie greifen niemals an, außer jemand nähert sich ihrem Nest.«
»Wald Angst«, sagte Guarr ernst. »Tiere Angst. Böse Zeit.«
»Zum Teufel, Gwenderon, was bedeutet das alles?«, fragte Cavin wütend. »Was … was redet dieses Tier? Um ein Haar hätte es mir eine Spinne ins Gesicht gehalten!«
Gwenderon drehte sich betont langsam herum, bedachte Cavin mit einem eisigen Blick und deutete mit einer Kopfbewegung zum Weg zurück. »Das bedeutete, mein Prinz«, sagte er, »dass der Weg gut hundert Schritte an ihrem Nest vorüberführt. Seht Ihr die Gewebe dort oben?«
Cavin starrte ihn wütend an, trat mit deutlichen Anzeichen des Ekels wieder vor und blickte mit einer Mischung aus Zorn und trotzigem Widerwillen zu den Baumwipfeln empor, dann wieder zu Boden, der jetzt stärker zu zucken und beben schien. Die Tiere waren einzeln nicht zu erkennen, aber es war, als wäre hier der Wald selbst zu furchtbarem, haarigem Leben erwacht.
Ein scharfer, leicht unangenehmer Geruch hing in der Luft.
»Das müssen tausende sein«, murmelte er.
»Wohl eher zehntausende«, sagte Norrot an Gwenderons Stelle. »Ich habe nie ein so großes Nest gesehen.«
»Weg schlecht«, pflichtete ihm Guarr bei. »Wir helfen. Ich warnen.«
Cavin schenkte ihm einen finsteren Blick. Der Anblick der zahllosen Tiere, die den Boden und die Bäume vor ihnen mit kribbelndem Leben bedeckten, hatte ihn für einen Moment aus der Fassung gebracht. Aber Guarrs Worte brachten seine alte Überheblichkeit wieder zum Durchbruch.