Und vielleicht war es auch ganz genau das, dachte Gwenderon: eine Mauer. Hier, auf dieser Lichtung, die mit ihrem Wasser und dem weichen Moos geradezu zum Rasten einlud, mochten schon andere übernachtet haben, und irgendwie vermochte er einfach nicht zu glauben, dass das Unterholz durch einen puren Zufall gerade hier besonders dicht sein sollte, wie eine stachelige Barriere, deren dornengespickte Krone auch ernst gemeinten Versuchen widerstehen mochte, sie zu übersteigen. Es war eine Mauer, die das fünfzehn Schritte messende Halbrund umgab, ein undurchdringlicher Wall. Er war sich nur nicht sicher, wen sie schützte: den Wald vor ihnen – oder sie vor dem Wald. Oder vor irgendetwas, was in ihm sein mochte.
Er verscheuchte den Gedanken, nahm den Sattel vom Rücken seines Pferdes und begann mit raschen Bewegungen sein Nachtlager zu errichten. Sie hatten Zelte in ihrem Gepäck: dünne Gespinste aus imprägnierter Seide, zusammengerollt nicht einmal so groß wie sein Arm und trotzdem verlässliche Helfer gegen Wind und Kälte. Aber die Mühe erschien ihm einfach zu groß, das komplizierte Geflecht aus Stangen und Sehnen zusammenzusetzen, und obwohl der Wind den kühlen Hauch des Abends herantrug, wusste er doch, dass die Nacht noch nicht wirklich kalt werden würde. Außerdem würden sie ein Feuer entzünden, sobald es wirklich dunkel geworden war. Und auch die Wolken, die sich von Osten heranschoben und allmählich zahlreicher wurden, waren nicht mehr als eine leere Drohung. Vielleicht würde es morgen regnen. Heute nicht mehr. So beließ er es dabei, seinen Sattel als Kopfkissen herzurichten und die Decken griffbereit daneben zu legen – so wie die meisten seiner Begleiter. Einzig die Männer, die den jungen Prinzen begleiteten, – und Cavin selbst, wie Gwenderon mit einem flüchtigen Gefühl von Verärgerung registrierte – hatten ihre Zelte aufgebaut, in einer geraden Linie am Ufer des Baches. Sie wirkte störend. Das helle Weiß der in bestimmte Öle getauchten Seide sah irgendwie … steril aus, fand Gwenderon. Voller Schadenfreude beobachtete er, wie einer von Cavins Lehrern vergeblich mit dem komplizierten Netzwerk aus dünnen Seilen und Haken zurande zu kommen versuchte; mit dem Ergebnis, sich um ein Haar selbst zu fesseln, wie ein ungeschickter Fischer, der sich in seinem eigenen Netz verhedderte. Schließlich ging er zu ihm hinüber und half ihm, seine Arme und Beine wieder aus dem Spinnennetz zu befreien, in das er die Sturmverspannung verwandelt hatte.
»Ich danke Euch, Gwenderon«, sagte der Mann, knapp und ohne eine Spur von echter Dankbarkeit.
Gwenderon nickte. »Keine Ursache. Es war außerdem überflüssig«, fügte er hinzu.
»Überflüssig?«
»Die Seile halten das Zelt bei starkem Wind oder Sturm«, erklärte Gwenderon. »Wir werden keines von beiden bekommen heute Nacht. Ich wollte nur nicht, dass Ihr Euch vollends zum Narren macht.«
Diesmal sprühte der Blick des Mannes vor Zorn.
Gwenderon erwiderte ihn kühl, wandte sich um und ging zu seinem Lager zurück. Mit einem Male war er müde, sehr müde.
Sein kleiner Triumph von gerade kam ihm plötzlich so billig und überflüssig vor, wie er gewesen war. Er setzte sich, kämpfckte einen Moment tapfer gegen die Versuchung an, sich einfach nach hinten sinken zu lassen und die Augen zu schließen, und tat es dann doch. Drei Tage praktisch ohne Unterbrechung im Sattel – neun, wenn er den Hinweg mitrechnete, wenngleich er nicht halb so anstrengend gewesen war wie der Ritt zurück – waren viel, auch für einen Mann wie ihn, denn er hatte den Höhepunkt seiner körperlichen Leistungsfähigkeit längst überschritten. Die Erschöpfung, deren Spuren ihm an Cavins Begleitern solche Genugtuung verschafft hatte, hatte längst auch von ihm Besitz ergriffen. Tagsüber, wenn er im Sattel saß und an der Spitze der kleinen Schar ritt, vermochte er sich zu beckherrschen. Er kompensierte einfach mit Willenskraft und Geckwohnheit, was ihm die anderen an Jugend und Stärke vorausckhatten. Es war tatsächlich so, wie er einmal vor langer Zeit Prinz Cavin gegenüber behauptet hatte: Man vermochte seine Erschöpfung schlichtweg zu vergessen, wenn man sie nicht beachtete, ähnlich wie bei einem schmerzenden Zahn. Aber in Augenblicken wie jetzt, wenn er ruhte und unaufmerksam war, dann fielen sie über ihn her, die dreiundfünfzig Jahre, die er zählte. Eine lange Zeit. Manchmal kam sie ihm fast zu lange vor. Er wusste nicht, ob es gut war, zu lange zu leben. Manchmal, besonders an kalten Abenden im Winter und Herbst, wenn die Feuchtigkeit in die Kammern Hochwaldens kroch, verspürte er ein schmerzhaftes Reißen in den Gliedern, und manchmal fiel es ihm morgens schwer, sich vom Schlaf zu lösen. Er hatte überlegt, wie es wohl war, irgendwann einmal wirklich alt zu sein; kurzsichtig und mit ausgefallenen Zähnen und Haar, und so klapprig, dass jede Bewegung zur Tortur wurde.
Aber so weit würde es nicht kommen. Es gab keinen konkreckten Grund für diese Gewissheit, aber Gwenderon hatte sie; unckumstößlich: Er würde nicht auf diese Weise sterben. Ein Tod als tatteriger, zahnloser Greis, der sich mit den Hunden um den wärmsten Platz hinter dem Ofen stritt, sobald es kühler wurde, passte so wenig zu ihm wie ein Weiberrock.
Das plötzliche Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ließ ihn die Augen öffnen.
Prinz Cavin stand über ihn gebeugt, die Hände auf den Oberckschenkeln abgestützt, mit einem neugierigen Funkeln in den Augen. »Ich wollte nicht stören, Gwenderon.«
»Ihr stört nicht.« Gwenderon richtete sich auf, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der Linken über die Augen und vercksuchte vergeblich ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich bin nicht müde.«
Cavin lächelte. »So?«, sagte er. »Ich bin es. Und alle anderen auch.« Er lächelte wieder und nach einem Augenblick erwiderte Gwenderon dieses Lächeln. Es musste wohl reichlich albern wirken, einen Mann, der sich den Schlaf aus den Augen rieb, sagen zu hören, dass er nicht müde war – und das auch noch mit einem Gähnen. Aber irgendwie hatten die Worte auf seiner Zunge bereitgelegen, ehe das Gähnen gekommen war, und er hatte sie nicht zurückhalten können. Er wurde wohl doch alt. Oder müde.
»Ihr habt Recht, mein Prinz«, sagte er. »Ich bin müde. Aber ich will noch nicht schlafen. Was wünscht Ihr?«
Cavin schien den plötzlichen Themawechsel falsch zu verckstehen, denn zwischen seinen Brauen erschien eine steile, übellaunige Falte, und sein Lächeln erlosch so rasch, wie es gekommen war. »Nichts Wichtiges«, antwortete er kühl. »Ich wollte Euch danken, dass Ihr Horus geholfen habt.«
»Horus?« Gwenderon überlegte einen Moment. Dann nickte er. »Euer Mann, der dabei war, sich zum Gespött zu machen.«
Die Falte zwischen Cavins dünnen, wie mit feinen parallelen Tuschestrichen gezogenen Brauen vertiefte sich. »Er ist nicht mein Mann«, antwortete er betont, »sondern einer meiner Lehrer, Gwenderon. Und überdies ein sehr kluger Mann. Warum verachtet Ihr ihn?«
»Wenn ich das täte, hätte ich ihm nicht geholfen«, antwortete Gwenderon. »Er war dabei, sich selbst zu erwürgen. Er mag ein kluger Mann sein, mein Prinz, aber das, was er weiß und kann, zählt hier nicht viel.« Cavins Worte machten ihn zornig. Er hatte keine Lust, mit Cavin zu streiten, schon gar nicht jetzt. Aber wie so oft in den letzten drei Tagen würde es wohl wieder darauf hinauslaufen: Sie hatten ein Dutzend Beinaheck-Auseinandersetzungen hinter sich und die Grenze zu einem echten Streit wurde jedes Mal dünner. Dabei spürte er ganz genau, dass der junge Prinz nicht gekommen war, um mit ihm zu streiten, so wenig, wie er absichtlich so scharf auf Cavins Angriff reagierte. Aber irgendwie waren sie wie zwei gereizte Raubtiere, die sich die ganze Zeit umschlichen und nach einer Möglichkeit suchten, den anderen zu packen. Und die Kreise wurden kleiner.
Trotzdem war es diesmal Cavin, der einlenkte, wenn auch, wie Gwenderon einen Augenblick später bemerkte, nicht unbeckdingt aus Einsicht. Seine dunkelblauen Augen – das Einzige, was er wirklich von seiner Mutter geerbt hatte, dachte Gwenderon – blitzten vor Zorn und nicht zum ersten Male in den vergangenen drei Tagen pressten sich seine Lippen zu einem dünnen, fast blutleeren Strich zusammen. Aber die wütende Entgegnung, die Gwenderon erwartete, blieb aus. Stattdessen schüttelte Cavin plötzlich den Kopf, seufzte sehr tief und ließ sich neben Gwenderon in den Schneidersitz sinken. Mit einem Male erinnerte er Gwenderon wieder an den Knaben von acht Jahren, als den er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatten oft so nebeneinander gesessen. Und als hätte er seine Gedanken gelesen oder diese Angewohnheit die ganze Zeit über beibehalten, beugte er sich plötzlich vor und ergriff mit beiden Händen seine Stiefelspitzen. Gwenderon lächelte.