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»Warum streiten wir uns unentwegt, Gwenderon?«, murmelte Cavin plötzlich. Er blickte Gwenderon an, runzelte die Stirn und wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr in fragendem Tonfall fort: »Habt Ihr Angst, dass ich Euch Euren Rang als Kommandant dieser Expedition streitig machen könnte?«

»Unsinn«, antwortete Gwenderon, vielleicht eine Spur zu hackstig. Natürlich war es nicht dos, aber Cavin war der Wahrheit doch näher gekommen, als er selbst wahrhaben wollte. »Ihr seid Oros Sohn und somit mein Befehlshaber. Und ich bin kein Kommandant und dies ist keine Expedition«, fuhr er in einem Tonfall fort, als müsse er sich verteidigen.

»Drei Behauptungen, von denen nur eine stimmt«, sagte Cavin. »Und keine Antwort auf meine Frage.«

»Und Ihr, mein Prinz?«, gab Gwenderon zurück. »Was ist mit Euch? Ich kenne Euch, seit –«

»Seit ich noch in die Windeln gemacht habe und Ihr mich auf den Knien geschaukelt habt, ich weiß«, unterbrach ihn Cavin. Wieder blitzte es in seinen Augen auf, und diesmal kostete es ihn mehr Beherrschung, die Worte nicht auszusprechen, die ihm auf der Zunge lagen. »Ihr braucht es nicht auszusprechen, Gwenderon. Jedermann hier weiß das. Umso mehr sollten wir Freunde sein, statt uns gegenseitig das Leben schwer zu machen.« Er seufzte. »Dieser verfluchte Wald zerrt schon genug an meinen Nerven. Wann werden wir Hochwalden endlich erreichen?«

»In drei Tagen. Mit etwas Glück.« Gwenderon war verstört. War es das?, dachte er. War die Lösung wirklich so einfach – und so erschreckend zugleich? Cavin war ein Kind gewesen, als er Hochwalden verlassen hatte, und jetzt war er zwanzig, ein Mann von sehr schlankem, aber kräftigem Wuchs und gucktem Aussehen, rein körperlich erwachsen, aber doch noch nicht alt genug, sich nicht mehr der Tatsache zu schämen, dass er einmal ein Kind gewesen war. Gwenderon wusste nicht, wie und in welchem Maße sich Cavin wirklich verändert hatte, in all den fremden Ländern und Städten, in denen er gewesen war, aber plötzlich war er sicher, dass es so war: Von allen hier war er, Gwenderon, der Einzige, der auch den anderen Cavin gekannt hatte. Den, der mit nass gemachten Hosen in der Burg herumgekrabbelt war, den Cavin, der lauthals losbrüllte, wenn er sich beim Spielen den Finger geklemmt oder die Krallen einer Katze zu spüren bekommen hatte, die er am Schwanz gezogen hatte. Den Sechsjährigen, der mit beiden Händen das Schwert seines Vaters zu heben versucht hatte und prompt nach vorne gekippt und sich die Nase blutig geschlagen hatte, weil die Waffe mehr wog als er selbst. War es wirklich so, dass alles, was sie eigentlich verbinden sollte, ihn in Cavins Augen zu einem potenziellen Gegner machte? Der Gedanke erschreckte ihn. Was, zum Teufel, dachte er, haben sie mit dir gemacht, in all den teuren Schulen und Universitäten, auf denen du warst, Cavin?

»Ihr habt mit Karelian gesprochen«, fuhr Cavin nach einer Weile fort. Gwenderon nickte, aber es war nur ein Reflex, keickne wirkliche Antwort. Ein unbewusster, aber sehr tief gehender Schrecken hatte von ihm Besitz ergriffen. Es fiel ihm schwer, Cavins Worten überhaupt noch zu folgen. »Danach«, fuhr Cavin fort, »seid Ihr weggegangen. Und als Ihr wiedergekommen seid, habt Ihr mich belogen, Gwenderon. Warum? Was hat Euch dieser Waldläufer wirklich gezeigt?«

»Belogen? Wie kommt Ihr darauf?«

Cavin schnaubte. »Für wie dumm haltet Ihr mich, Gwenderon? Denkt Ihr etwa, ich hätte das Märchen von der Brüllechse auch nur einen Moment lang geglaubt?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe heute Nachmittag dazu geschwiegen, weil ich Euch nicht vor aller Augen blamieren wollte. Jetzt sind wir allein, also sagt mir die Wahrheit.« Er hob rasch die Hand, als Gwenderon zu einer wütenden Antwort ansetzte. »Ihr seid nie ein guter Lügner gewesen, Gwenderon, und Ihr habt nichts dazugelernt in all den Jahren. Ich schon. Man hat mich gelehrt eine Lüge zu erkennen. Es ist gar nicht so schwer, wie Ihr glaubt.«

»So?« Gwenderon starrte ihn an.

Cavin nickte. »Fast jede Lüge verrät sich selbst«, erklärte er in einem Ton, der kindlichen Stolz über das verriet, was er sagckte. »Es ist ganz leicht. Eure Stimme verändert sich, wenn Ihr lügt, Gwenderon. Die Pupillen werden weiter und der Rhythmus des Atems ist plötzlich ein anderer.«

»Habt Ihr das auf Euren Schulen gelernt?«, fragte Gwenderon wütend.

Cavin nickte abermals. »Unter anderem. Was ist wirklich gewesen?«

»Karelian hat … eine Spur gefunden«, antwortete Gwenderon zögernd. »Er zeigte sie mir.«

»Eine Spur? Was für eine Spur?«

Einen Moment lang zögerte Gwenderon noch, aber dann flammte der Zorn in ihm höher auf. Vielleicht tat es Cavin ganz gut, einen kleinen Dämpfer zu bekommen. Eine Nacht voller übler Träume und Furcht würde ihm ein wenig von der Ehrfurcht und dem Respekt zurückbringen, die er verlernt zu hackben schien. »Raett«, sagte er. »Es waren die Spuren eines Raett. Und Karelian sagt, er hätte noch mehr gesehen.«

»Ein Raett?« Cavin erbleichte ein ganz kleines bisschen. »Ein wilder Raett? Hier?«

»Gibt es denn zahme?«, erwiderte Gwenderon.

Cavin nickte nervös; dann lächelte er, aber sein Blick flackerte. Er hatte Recht, dachte Gwenderon. Es war nicht sehr schwer, eine Lüge zu erkennen. Aber der Gedanke bereitete ihm nicht halb so viel Befriedigung, wie er sollte.

»Ich habe ein paar gesehen«, sagte Cavin schleppend. »In den Steinbrüchen von Cobol und … und als Ruderschläger auf dem Schiff, das mich hierher brachte. Es sind widerliche Kreackturen. Und Ihr sagt, sie wären hier? In unserer Nähe?« Unwillkürlich hob er den Blick und starrte die grünbraune Mauer aus Dornen und Blattwerk hinter Gwenderon an. »Seid Ihr sicher, dass sich der Waldläufer nicht getäuscht hat?«

»Ich bin sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe«, antwortete Gwenderon betont. »Auch ich habe schon mehr als einen Raett gesehen, mein Prinz. Und sie waren nicht zahm.« Er lächelte innerlich, als er sah, wie Cavin noch mehr erbleichte, aber seine Worte taten ihm auch fast im gleichen Moment schon wieder Leid. »Es besteht keine Gefahr«, sagte er rasch. »Ich habe nie gehört, dass wilde Raetts einen so großen Trupp Bewaffneter angegriffen hätten. Wahrscheinlich ist es so, wie Karelian vermutet; sie folgen unserer Spur und hoffen, ein paar Abfälle zu ergattern.«

»Warum habt Ihr mich dann belogen, wenn keine Gefahr becksteht?«

Gwenderon seufzte. »Vielleicht, um eine sinnlose Diskussion wie diese zu vermeiden, mein Prinz«, sagte er. »Und auch, um Eure Begleiter nicht zu verunsichern. Ich bin froh, wenn wir Hochwalden erreichen, ehe einer von ihnen vor Überanstrengung zusammenbricht. Ein Haufen hysterischer Feiglinge, die vor jedem Schatten davonlaufen, ist das Letzte, was ich mir wünsche.«

Cavin rutschte ein wenig in seiner vorgebeugten Haltung herum, sodass er nun ihn und die Reihe kleiner weißer Zelte vor dem Bach gleichzeitig ansehen konnte. »Ihr verachtet sie, Gwenderon«, sagte er vorwurfsvoll. »Aber sie sind meine Freunde. Und jeder Einzelne ist ein fähiger Mann, auf seine Art.«

»Das mag sein«, antwortete Gwenderon gereizt. »Dort, wo sie herkommen. Hier sind sie nur eine Last, mein Prinz. Sie hätten nicht mitkommen sollen. Ihr Wissen von Politik und Kunst und Literatur und Wissenschaft und was weiß ich nutzt ihnen wenig, wenn sie in einen vergifteten Dorn treten oder giftige Beeren pflücken, um daran zu sterben. Warum habt Ihr sie mitgebracht?«