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»Weil sie meine Freunde sind«, antwortete Cavin mit großem Ernst und ohne jede Spur von Vorwurf. »Und«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »weil sie mich darum gebeten haben.«

»Uns sechs Tage lang zur Last zu fallen?«

»Hochwalden zu sehen«, antwortete Cavin mit einem Kopfschütteln. »Diese Männer haben mich alles gelehrt, was ich weiß, Gwenderon. Ich empfinde es nur als gerecht, wenn ich ihnen nun etwas zeige, was sie nie zuvor gesehen haben. Hochwalden ist eine Legende.«

»Hochwalden ist Euer Zuhause, Prinz«, sagte Gwenderon, in fast beschwörendem Ton. »Nichts, was man vorzeigt wie ein glänzendes Spielzeug.«

Cavin lachte ganz leise. »Was muss ich sehen, Gwenderon? Ihr seid ja eifersüchtig.« Dann wurde er wieder ernst. »Seid Ihr sicher, dass die Raetts keine Gefahr darstellen, Gwenderon? Ich habe keine Angst, aber ich möchte nicht, dass sie mir vorckwerfen, ich hätte meine Schulden mit dem Tatzenhieb eines Ungeheuers zurückgezahlt.«

»Völlig sicher«, antwortete Gwenderon in ebenso ernstem Ton, obwohl er nicht ganz so überzeugt war, wie er Cavin glauben machen wollte. Seine Worte von vorher waren wahr gewesen – er hatte auch noch nie gehört, dass Raetts im Schwarzeichenwald gesichtet worden wären. Erst recht nicht in diesem Teil des Waldes.

Cavin seufzte. »Das alles wäre gar nicht geschehen«, murmelte er, »hätte mein Vater nicht darauf bestanden, dass wir diesen Weg nehmen. Ich frage mich noch immer, warum.«

»Er ist kürzer«, antwortete Gwenderon.

»Eine Woche!«, ereiferte sich Cavin. »Und dafür zehnmal so mühsam! Bei allem, was recht ist, Gwenderon, ich war zwölf Jahre lang von Hochwalden fort – welchen Unterschied macht da noch eine Woche?«

Einen großen, dachte Gwenderon betrübt. Einen sehr großen, weil diese eine Woche vielleicht die Hälfte des Lebens ist, die deinem Vater noch bleibt, du dummer armer Junge.

Aber das sprach er nicht aus. König Oro hatte ihm sein Ehrenwort abverlangt, dass er Cavin gegenüber mit keinem Wort erwähnte, wie es wirklich um den König von Hochwalden stand. Und er würde dieses Wort halten, ganz gleich, was geschah. Und was hätte er Cavin auch sagen können? Dass König Oro von Hochwalden die Berührung des Todes gespürt hatte, das leise Zerren seiner Knochenhand, das ihm sagte: Deine Zeit ist gekommen, alter Freund. Jetzt ruf deinen Sohn zurück und küss ihn meinetwegen noch einmal, und dann mach gefälligst, dass du zu mir kommst? Oder dass König Oro, der Behüter des Schwarzeichenwaldes, schlichtweg um das Leben seines einzigen Sohnes fürchtete, weil er die Furcht kennen gelernt hatte, im zurückliegenden letzten Sommer seines Lebens und in Gestalt eines schwarz gekleideten Mannes, der uneingeladen an seinen Hof gekommen war? Oder dass er seinem Sohn und seinen ebenfalls uneingeladenen Begleitern die Strapaze dieses Rittes zumutete, weil ein tatteriger alter Zauberer in seine Krickstallkugel geschaut und in den durcheinander wirbelnden Rauchschwaden darin eine Gefahr gelesen hatte – oder es zuckmindest behauptete –, die auf den Prinzen lauerte, längs des normalen Weges nach Hochwalden? Nichts von alledem wäre völlig falsch, und nichts völlig richtig – und nichts davon hätte Cavin wirklich als Antwort akzeptiert.

So schwieg er, auch wenn er wusste, dass er damit die Kluft zwischen ihnen, über die Cavin gerade einen ersten dünnen Zweig gelegt hatte, noch mehr vertiefte. Er konnte direkt hören, wie dieser zerbrach, als Cavin nach einer Weile, in der er ihn vergeblich angestarrt und auf eine Antwort gewartet hatte, aufstand und sich umwandte.

Gwenderon blickte Cavin nach, bis er vor seinem Zelt niedergekniet und hineingekrochen war. Sie waren einmal Freunde gewesen, Cavin und er, der rotznasige Junge und der Waffenmeister von Hochwalden. Er hatte diesen vorlauten kleinen Bengel fast so sehr geliebt wie einen Sohn, und etwas in ihm tat es noch immer. Und vielleicht war das, was er jetzt spürte, nichts anderes als das, was alle Väter spüren, wenn sie sich eines Morgens über das vermeintliche Kinderbett ihres Sohnes beugen und feststellen, dass ein Mann darin liegt. Ein Mann, der in Konkurrenz zu ihnen trat, ob sie es wollten oder nicht. Aber vielleicht war auch alles ganz anders.

Wieder spürte Gwenderon den warmen schmeichelnden Griff der Müdigkeit und diesmal gab er ihm nach. Es wurde jetzt rasch dunkel, und hinter ihm, jenseits der dornengespickten Schutzwehr des Waldes, wo die Schatten nisteten, war bereits die Nacht hereingebrochen. Aber ganz kurz, bevor Gwenderon endgültig einschlief, öffnete er noch einmal die Augen, und für einen unendlich kurzen Moment glaubte er einen Schatten zu erkennen, der jenseits der Stachelhecke stand und zu ihnen herüberstarrte, einen gewaltigen, zottigen Schatten von mehr als Mannshöhe, der aus glühenden Augen zu dem kleinen Häufchen Menschen auf der Lichtung herüberblickte.

Gwenderon war schon zu müde, um mehr als ein Gefühl sehr flüchtigen Interesses zu verspüren oder den Gedanken gar bis zu seinem konsequenten Ende zu verfolgen, was aufzustehen und der Sache auf den Grund zu gehen bedeutet hätte. Er schlief ein.

Irgendwann, lange nach Mitternacht, begann es zu regnen. Zumindest was das Wetter anging, hatte er sich getäuscht. Aber bis die eisige Kälte ihn weckte und er begriff, was überhaupt geschah, war er bereits nass bis auf die Knochen.

3

Obwohl sich an die hundert Menschen auf dem Innenhof der Burg aufhielten, wirkte der gepflasterte Platz leer und auf sonderbare Weise verlassen, ein Tummelplatz für den Wind, der Feuchtigkeit und nasses Laub vor sich hertrieb. Wie zum Hohn war es kälter geworden, nachdem die Wolken weitergezogen und der Himmel wieder blau geworden war, und in den Ritzen des Kopfsteinpflasters glitzerte Regenwasser. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, die das Licht der tief stehenden Sonne wie achtlos verstreute Spiegelscherben brachen, und die Schatten wirkten hart, wie mit kräftigen Federstrichen gezogen. Schwarz ausgemalte Flächen unbestimmter Form, in denen nichts mehr existierte, Löcher in der Wirklichkeit. Es war still, und die wenigen Laute, die Oro vernahm, wirkten deplatziert: Ein Pferd wieherte, zur Antwort erklang der krächzende Schrei eines Vogels hoch in der Luft, und aus der Hufschmiede am anderen Ende des Hofes drang das gedämpfte unrhythmische Klingen von Stahl, der auf rot glühendes Eisen schlug. Funken stoben aus der Esse und erloschen in der feuchtigkeitsgeschwängerten Luft, ehe sie ihren begonnenen Halbkreis beenden konnten. Es war wie eine Szene ein ganz kleines bisschen jenseits der Realität, nicht mehr ganz Traum, aber auch noch nicht ganz Wirklichkeit. Die Zukunft warf düstere Schatten voraus, Schatten, die noch nicht sichtbar waren, aber etwas in seinem Inneren berührten wie eisiger Wind.

König Oro zog den weißen Mantel mit dem Wappen Hochwäldern – einem Doppelkopfadler in Schwarz und Weiß und düster drohendem Rot – ein wenig enger um die Schultern, hob den Kopf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zum Himmel empor. Ein dunkler Punkt zog hoch über der Burg seine Kreise, und als hätte er seinen Blick bemerkt und reagiere darauf, erscholl der krächzende Schrei ein zweites Mal, und diesmal klang er eindeutig spöttisch in Oros Ohren.

Oro seufzte. Es war ein böses Omen, ganz gleich, wie er es drehte und wendete: Es war nicht nur dieser Vogel dort oben, nicht nur die düstere Herbststimmung, mit der der Tag verspäcktet Einzug hielt, nicht nur das gedrückte Schweigen, das Hochwalden umklammerte wie eine unsichtbare erstickende Faust, nicht einmal die Bedrückung in seinem Inneren, von der er noch immer nicht wusste, ob sie nun Furcht oder ganz einfach Müdigkeit war – aber von allem ein bisschen. Er war nicht abergläubisch. Er war es nie gewesen, zu Faroans Leidwesen und Gwenderons geheimer Freude. Aber die letzten Tage hatten viel Neues gebracht und nur wenig davon war erfreulich gewesen. Und das plötzliche Unwetter und die schwarze Krähe hoch oben über der Burg erschienen wie zwei Versatzstücke, die Resnec eigens herbeigeschafft hatte, seinem Auftritt den richtigen Hintergrund zu geben.