Animah hatte auf dem verbrannten Thron Platz genommen; obwohl ihr sein Anblick ein fast körperliches Unbehagen bereicktete, symbolisierte er doch mehr als alles andere den Frevel, den Lassar an Hochwalden begangen hatte. Aber es war das einzige Sitzmöbel, das es im ganzen Raum gab, und sie war müde und kam sich einfach albern dabei vor, nur dazustehen und den schweigenden Krieger unter der Tür anzustarren. Jetzt stand sie auf, näherte sich – mit den langsamen Schritten eines Menschen, der im Grund unschlüssig ist, was er überhaupt tun soll – dem kleinen Tischchen neben der Tür und griff nach dem Becher, den Lassar zuvor für sie gefüllt hatte. Sie hatte Durst, und der Gedanke, dass der Wein vergiftet sein könne, kam ihr im Nachhinein reichlich albern vor – Lassar hatte mindestens hunderttausend Gelegenheiten gehabt, sie einfacher und sicherer zu töten als mit einem Becher vergiftetem Wein.
Vorsichtig nippte sie an dem süßen Getränk, registrierte unckbewusst, wie schwer und alkoholhaltig der Wein war, und wandte sich mit einem halblauten Seufzen an ihren Bewacher.
»Dein Name ist Braddoc?«, fragte sie.
Im ersten Moment schien es, als würde er nicht antworten, sondern weiter wie eine lebende Statue dastehen, aber dann drehte er doch ein wenig den Kopf, blickte sie aus seinen unckangenehmen grauen Augen an und nickte fast unmerklich. Animah antwortete mit einem übertriebenen Lächeln darauf.
»Der Wein ist gut«, sagte sie. »Trinkst du einen Becher mit mir?«
Braddoc schüttelte den Kopf und schwieg.
»Ich verstehe«, sagte Animah. »Lassar hat dir verboten zu trinken, nicht wahr?«
Braddoc nickte abermals und schwieg weiter.
»Hat er dir auch verboten zu reden?«, fragte Animah. »Oder hast du Angst, ich könnte dich behexen?« Sie lachte. »Keine Sorge, mein Freund. Ich sehne mich nur nach ein wenig menschlicher Gesellschaft. Ich war ziemlich lange allein, weißt du?« Sie nippte wieder an ihrem Wein, trat zwei Schritte auf den Wächter zu und musterte dabei unauffällig die Tür hinter ihm. Sie hatte kein Schloss, sondern nur einen einfachen Riegel, vor dem Braddoc allerdings wie ein lebender Berg stand. Sie schätzte, dass er an die hundert Pfund mehr wog als sie – und außerdem ausgeruht und hellwach war.
Lächelnd bewegte sie sich weiter auf ihn zu, blieb in weniger als einem Schritt Entfernung vor ihm stehen und löste mit der linken Hand den Hanfstrick, der ihr als Gürtel diente. Ihr Geckwand fiel raschelnd auseinander und Braddocs Gesicht zeigte zum ersten Mal eine Reaktion: Er runzelte die Stirn, um ihr zu zeigen, wie kindisch und sinnlos er ihren Versuch fand. Animah war in diesem Punkt etwas anderer Meinung. Ihre Hand schloss sich fester um den Strick; aber nicht fest genug, sein Misstrauen zu erwecken.
»Du bist langweilig, Braddoc«, sagte sie. »Was hat Lassar mit euch gemacht? Interessiert ihr euch alle nicht für Frauen oder bin ich dir nicht hübsch genug?«
»Lass das«, sagte Braddoc leise. Seine Stimme klang gelangweilt.
Animah seufzte. »Wie du willst.«
Im gleichen Moment ließ sie den Becher fallen, trat blitzckschnell einen Schritt auf den Krieger zu und rammte ihm das Knie zwischen die Oberschenkel. Braddoc ächzte, taumelte einen Schritt zur Seite und streckte die Hände nach ihr aus. Wie sie erwartet hatte, war er keineswegs außer Gefecht gesetzt.
Aber er war für den Bruchteil eines Augenblickes abgelenkt, und das war alles, was Animah brauchte. Blitzschnell tauchte sie unter seinen zupackenden Händen durch, war mit einem Schritt halbwegs neben und hinter ihm und schlang ihm den Strick um den Hals. Braddocs Rechte bewegte sich rasend schnell nach oben, packte den Strick, ehe er sich um seine Kehle legen und ihm den Atem abschnüren konnte, seine andere Hand suchte und fand Animahs Haar und krallte sich hinein. Mit einem wütenden Ruck versuchte er sie herum- und von den Füßen zu zerren.
Animah sprang. Vielleicht begriff der Krieger noch im allerletzten Moment, dass er sie unterschätzt hatte, aber wenn, dann kam dieses Begreifen zu spät. Animah rollte über seine Schulter, von seiner eigenen Kraft gezerrt, vollführte einen ungeschickten, halben Salto und landete schmerzhaft auf den Knien, aber ihre Hände umklammerten dabei mit aller Kraft den Strick. Es war Braddocs eigene Kraft, die ihm das Genick brach.
Kaum eine Minute später schob Animah den Riegel zurück und öffnete vorsichtig die Tür, Braddocs Schwert in der Rechten. Der Gang war leer, wie sie gehofft hatte, und auch als sie die Treppe erreichte, traf sie weder auf einen Krieger noch auf eine andere von Lassars Kreaturen.
Es war schwer, Hochwalden zu verlassen ohne entdeckt zu werden.
Aber sie schaffte es.
10
Über den See hinweg und aus einer Entfernung von mehr als einer Meile betrachtet hatten die Krieger die Größe von Spielckzeugen gehabt, und der Schnee, der bis weit in den Morgen hinein beständig vom Himmel gefallen war, ließ ihre schwarckzen Eisenharnische glänzen, als wären sie wirklich nicht mehr als kunstvoll lackierte kleine Zinnsoldaten, die durch einen bizarren Zauber zum Leben erwacht waren.
Jetzt, als sie näher gekommen waren, sah Cavin, wie groß die schwarz gepanzerten Kreaturen wirklich waren. Und mit der Entfernung hatten sie nicht nur ihre scheinbare Winzigkeit verckloren, sondern auch jegliche Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen.
Cavin presste so heftig die Kiefer aufeinander, dass es wehtat. Seine Hände zitterten und in die kalte Entschlossenheit, die er noch vor Augenblicken verspürt hatte, mischte sich ein immer stärker werdender Funke nackter Angst. Er fror, aber das kam nicht nur daher, dass er bis auf die Haut durchnässt und übermüdet war, sondern es war eine Kälte, die eher aus seinem Inneren heraufzukriechen schien, und er hatte sie zum ersten Mal gefühlt, als er neben Gwenderon hinter dem Mauerrest in Deckung gegangen und die erste der dunklen Kreaturen aufgetaucht war. Es waren viele. Hochwalden war eine Ruine, aber sie war bewohnt; von mehr Wesen, als jemals in ihren Mauern geweilt hatten.
»Was ist das, Gwenderon?«, flüsterte er. »Was sind das für Wesen?«
Der Waffenmeister zuckte zur Antwort mit den Schultern, schmiegte sich dichter in den Schatten der zerborstenen Mauer und spähte aus eng zusammengepressten Augen auf das verkohlte Rechteck, das bis vor sechs Monaten der Innenhof Hochwaldens gewesen war. Obwohl er genau wusste, dass es unmöglich war nach so langer Zeit, glaubte er Brandgeruch zu riechen, und dort, wo der Schnee die Steine nicht unter sich begraben hatte, schienen sie noch immer heiß zu sein.
Nervös fuhr sich Gwenderon mit der Zungenspitze über die Lippen, sah sich misstrauisch nach beiden Seiten um und wischte sich mit dem Handrücken den pulverfeinen Schnee aus dem Gesicht.
»Ich weiß es nicht, Herr«, antwortete er auf Cavins Frage – mit einiger Verspätung und in einem Ton, der mehr als jedes Wort deutlich machte, wie sehr auch er die Aura des Finsteren, Bösen spürte, die das knappe Dutzend gepanzerter Riesenkreackturen umgab. Und wie sehr er sich in seiner Meinung bestätigt sah, dass sie nicht hätten kommen sollen. Er sprach es nicht aus, aber sein Blick und sein Tonfall sagten ganz deutlich, wofür er Lassars Einladung hielt: für eine Falle. »Ich habe so etckwas noch nie gesehen«, fügte er hinzu.