»Und trotzdem glaubst du auch, dass Gwenderon Recht hat?«
»Sie werden Euch verachten«, sagte Karelian ernst. »Viele werden Euch einen Feigling nennen, Cavin. Manche einen Verräter.«
»Ich weiß«, antwortete Cavin leise. »Glaubst du auch, dass ich das Schicksal der Welt verändere, wenn ich Lassars Kriegern gestatte durch den Schwarzeichenwald zu ziehen?«
Karelian lachte leise. »Das Schicksal der Welt? Kaum. Und wenn – was seid Ihr der Welt schuldig? Niemand ist Euch zu Hilfe geeilt, als Lassar mit dem Schwert in der Hand kam, um Euer Reich zu erobern. Niemand würde Euch jetzt zu Hilfe eilen, würde er kommen, um den Wald niederzubrennen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Cavin – es ist ganz alleine Eure Entscheidung. Der Schwarzeichenwald hat schon immer exickstiert, ohne dass irgendetwas außerhalb seiner Grenzen von Bedeutung für sein Schicksal gewesen wäre. Und wäre es so – Ihr könntet Lassar nicht aufhalten. Das erste Mal kam er, um zu erobern. Jetzt käme er, um zu zerstören. Aber sie werden Euch verachten.« Plötzlich wurde seine Stimme ganz leise, aber dabei so ernst, dass Cavin ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Ihr kennt den Preis, den Ihr zahlen müsst.«
Cavin nickte. Mit einem Male fiel es ihm fast schwer, zu sprechen. »Ich werde als der erste König Hochwaldens in die Geschichte eingehen, der sein Reich verriet. Sie werden mich verachten. Sie werden mich Cavin, den Feigling nennen. Den Verräter.« Er lachte leise. Es klang bitter. »Sie werden auf meinen Namen spucken, Karelian.«
»Aber der Schwarzeichenwald wird weiterleben«, fügte der Waldläufer hinzu.
»Und … Gwenderon?«
»Wird alt und bitter werden und sterben«, sagte Karelian ernst. »Wie wir alle. Aber er wird nicht Euer Feind werden.«
»Aber auch nicht mehr mein Freund, Karelian.«
Der Waldläufer nickte. »Ist dieses Opfer zu groß?«
Cavin beugte sich vor, raffte eine Hand voll Erde vom Boden auf und warf sie in die Flammen. »Die meisten meiner Freunde sind tot, Karelian«, flüsterte er. »Ich habe nicht mehr sehr vieckle. Ich kann es mir nicht leisten, einen weiteren zu verlieren.«
»Ihr könnt es Euch nicht leisten, den Wald zu verlieren, Cavin«, verbesserte ihn Karelian sanft.
Cavin nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Und ich weiß auch, dass ich keine Wahl habe. Aber ich weiß nicht, welches Opfer gröckßer ist. Ich mag Gwenderon sehr. Ich … ich liebe ihn wie …«
»Wie einen Vater?« Karelian lächelte, als er den betroffenen Ausdruck auf Cavins Zügen gewahrte. »Nun, mein König – er war wie ein Vater zu Euch. Und er liebt Euch wie einen Sohn.«
»Es ist so … so falsch«, murmelte Cavin verzweifelt. Der Blick, den er Karelian zuwarf, war beinahe flehend. »Ich muss eine Freundschaft opfern, um mein Land zu retten, oder mein Land, um eine Freundschaft zu erhalten. Das … das ist einfach nicht richtig. Gibt es wirklich Momente, in denen alles, was man tun kann, falsch ist, mein Freund?«
Karelian nickte ernst. »Ja, mein König«, sagte er. »Die gibt es. Es wird an der Nachwelt sein, zu entscheiden, ob Eure Wahl richtig war oder nicht.«
»Die Nachwelt …« Cavin sprach das Wort mit einer Betocknung aus, die ihm selbst nicht ganz klar war. Irgendwie, ohne dass er den Gedanken begründen konnte, hatte er plötzlich das sichere Gefühl, dass es keine Rolle spielte, was die nach ihnen folgenden Generationen denken oder sagen würden, ganz einfach deshalb, weil es nach ihnen niemanden mehr geben würde, wenn er sich falsch entschied.
»Du hast Recht, Karelian«, sagte er nach einer Weile. »Lass es sie entscheiden.«
»Und wie entscheidet Ihr?«
Cavin antwortete nicht, sondern starrte weiter blicklos und mit unnatürlich weit geöffneten Augen in die Flammen. Dann stand er auf und ging mit sehr langsamen Schritten davon, zum Fluss hinunter, wo Lassars Krieger und der Unterhändler noch immer auf seine Antwort warteten.
13
Die Sonne war bereits aufgegangen, aber hier, tief unter den mächtigen Kronen der Bäume, die wie knorrige grüne Finger ineinander gewachsen und verfilzt waren, herrschte noch immer tiefste Nacht; Dunkelheit und ein Schweigen, das nur selten von Tierlauten und noch seltener von menschlichen Äußerungen durchbrochen wurde. Die Dunkelheit war absolut. Selbst das Licht einer Fackel wäre nach wenigen Schritten in den schwarzen Schatten zwischen den dicht stehenden, wie glatt poliert aussehenden Bäumen versickert.
Trotzdem bewegte sich der Reiter mit einer beinahe traumckwandlerischen Sicherheit. Sein Pferd scheute immer wieder, als spüre es Dinge in den Schatten, die den gröberen Sinnen seines Reiters verborgen blieben, aber Gwenderon zwang es jedes Mal mit roher Gewalt, weiterzugehen. Schließlich, nach einer Weile, deren Dauer er nicht einmal abzuschätzen vermochte – denn auch die Zeit begann hier, nahe am Herzen des Waldes, wie das Licht und der Wechsel von Tag und Nacht, ihre Bedeucktung zu verlieren –, lichtete sich die finstere Mauer vor ihm ein wenig. Sein Pferd griff schneller aus, instinktiv darum bemüht, heraus aus dieser fremden, kalten und schweigenden Welt zu gelangen, und nach einem knappen Dutzend Schritten erreichte er eine ovale, von mächtigen Baumkronen überspannte Lichtung.
Der Grabhügel in ihrer Mitte war im Laufe des Winters nahezu verschwunden. Unkraut, Buschwerk und junge Bäume hatten ihre Wurzeln in die aufgeworfene Erde gekrallt und begonnen, das verlorene Terrain mit der zeitlosen Geduld alles Natürlichen zurückzuerobern. Nur der, der ohnehin wusste, wonach er zu suchen hatte, hätte den Grabhügel überhaupt entckdeckt.
Gwenderon zügelte sein Pferd, sah sich einen Moment lang unschlüssig und mit einem allmählich aufkeimenden Gefühl von Furcht um, dann schwang er sich aus dem Sattel, band sorgsam die Vorderläufe des Tieres zusammen und ging mit raschen Schritten auf den Hügel zu. Sein Herz hämmerte, und die Luft, die er atmete, schien plötzlich bitter zu schmecken. Das Licht der Sonne, die mittlerweile als flammendes Rad über den Baumwipfeln erschienen war, wirkte gedämpft und blass, fast wie silberner Mondschein, und die Schatten schienen das Geräusch seiner Schritte aufzusaugen. Kalter, feinperliger Schweiß bedeckte seine Stirn, obwohl es so kalt war, dass sein Atemhauch sichtbar wurde.
Rasch umrundete er den Grabhügel, sah sich suchend um und zog sein Schwert aus dem Gürtel. Die rasiermesserscharfe Klinge zerschnitt Blätter und Dornengestrüpp, und schon nach wenigen Augenblicken lag die zernarbte Metallplatte frei vor ihm, unter der sich der Eingang zu Faroans Grab befand.
Gwenderon zögerte. Er war fest von der Notwendigkeit dessen überzeugt, was er tat, und doch …
Es war einfach nicht richtig, die Toten in ihrer Ruhe zu stören, und es war Frevel, überhaupt hierher zu kommen. Dieser Teil des Waldes war Menschen verboten. Hatte er nicht selbst sein Leben und das seiner Freunde riskiert, um ihn zu beschützen?
Aber dann vertrieb er den Gedanken. Es gab Momente, in denen musste man einen Teil opfern, um das Ganze zu schützen, das waren Cavins eigene Worte gewesen. Noch einmal zögerte er, denn irgendwie hatte er das Gefühl, das Band, das zwischen ihm und Cavin gewesen war, endgültig zu zerschneickden mit diesem Hieb. Wenn sie auch noch immer für die gleiche Sache kämpften, würden sie Gegner sein, wenn er tat, wesckhalb er gekommen war. Und dieser Gedanke schmerzte ihn mehr als alles andere; er war stärker als sein Hass auf Lassar, stärker als seine Liebe zum Schwarzeichenwald, stärker als der Treueeid, den er Cavins Vater geschworen hatte. Aber vielleicht war dies der Preis, den er bezahlen musste.
Mit einem letzten, wuchtigen Hieb zertrennte er eine Ranke, die ihm den Weg verwehren wollte, stieß sein Schwert in den Gürtel zurück und ließ sich auf die Knie fallen, um die schwarckze Eisenplatte anzuheben. Sie war schwer; viel schwerer, als er geglaubt hatte, und es kostete ihn seine ganze Kraft, sie so weit wegzuschieben, dass er hindurchschlüpfen konnte.
Darunter sah er die ersten Stufen einer schmalen, steil in die Tiefe führenden Treppe. Gwenderon zögerte einen Moment, dann schlüpfte er hinab, stemmte die Platte unter Aufbietung aller Kräfte vollends in die Höhe und begann in die Tiefe zu steigen.