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Wie immer, wenn sie sich der Burg über die Pfade der Schatten und Träume näherten, lag ein leiser Hauch von Nebel über dem Stück freier Fläche, das sich zwischen der Megidda und dem Waldrand spannte, sodass der Boden nur hier und da zu sehen war, und auch Zinnen und Türme der Feste waren hinter einem blassen, grau wirbelnden Schleier verborgen. Der Anblick war unwirklich. Der Nebel lag auf der Erde wie eine herabgesunkeckne Wolke, obwohl es viel zu kalt war, als dass es überhaupt Nebel hätte geben dürfen. Er verbarg die schwarzen Lavacktrümmer, die der Megidda vorgelagert waren wie Riffe einer jäh aus dem Meer emporsteigenden Klippe, jedes Geräusch zu einem unwirklichen Echo dämpfend. Und nicht zum ersten Mal, seit sie an diesem verbotensten aller Orte Zuflucht gesucht hatten, hatte Cavin das Gefühl, nicht nach Hause zu kommen, sondern einen Frevel zu begehen. Sein Blick suchte die himmelhohe schwarze Flanke der Zyklopenfestung, aber in Wahrheit sah er den schwarzen Stein kaum, auf dem weder Schnee noch Eis noch Regen Halt fanden, sondern glaubte die riesige Schwarzeiche im Herzen der Festung zu erblicken, einen schweigenden Giganten, der seit Jahrmillionen hier stand, älter als dieser Wald, älter als dieses Land, vielleicht älter als diese Welt. Der Gedanke, irgendetwas, was in seiner Macht stünde, könne ausreichen, diesem majestätischen Riesen Schackden zuzufügen, erschien ihm lächerlich. Aber dann glaubte er Lassars Worte zu hören, fast als hätte er sie nur gesprochen, damit er sich ihrer in genau diesem Moment erinnerte: Zerstören ist immer leichter als Erschaffen.
Vielleicht hatte er zerstört; alles, wofür die Völker der Welt gekämpft und gelitten hatten. Was nutzte ein Sieg, wenn es das, weshalb er errungen worden war, nicht mehr gab?
Mit einem sanften Schenkeldruck ließ er sein Pferd zwischen den Büschen hervortreten, wartete, bis Karelian und Guarr ihm gefolgt waren und rechts und links von ihm Aufstellung genommen hatten, und trabte erst dann weiter. Plötzlich verspürte er eine vollkommen absurde Angst, allein zu sein. Hinter ihnen tauchten mehr und mehr Reiter aus der Deckung des Waldes auf; das knappe Dutzend Männer, das ihren gescheiterten Angriff auf die Flöße überlebt hatte, und eine halbe Hundertschaft Raetts, die in fast komisch anmutenden Haltungen auf den Pferden hockten – mehr als ein Viertel des bunt zusammengewürfelten Haufens, der sich in den sechs Monaten um ihn, Karelian und Gwenderon geschart hatte und sich Rebellen nannte. Abermals kam ihm zu Bewusstsein, dass es Lassar nicht mehr als ein Fingerschnippen kosten würde, sie zu vernichten. Vielleicht waren sie nicht einmal hier sicher. Dieser Ort war das Nirgendwo, Lassars Zugriff und dem seiner Krieger entzogen. Aber er konnte auch ebenso zu einem Gefängnis werden.
Instinktiv ließ er sein Pferd langsamer laufen, als sie sich dem Tor näherten. Die beiden riesigen Eichenflügel standen noch immer so schräg und zerborsten da wie vor einem Jahrtausend, und das Fallgitter war heraufgezogen, sodass seine Spitzen wie rostzerfressene Zähne aus der Mauer ragten. Aber irgendetwas hinderte ihn daran, hindurch und auf den Hof seckhen zu können; es war der gleiche, unwirkliche graue Nebel, der auch die Zinnen und Türme der Megidda verbarg. Etwas bewegte sich dahinter, aber Cavin vermochte nicht zu sagen, was. Aber er hatte es auch längst aufgegeben, die Geheimnisse der schwarzen Festung ergründen zu wollen. Es gab ein paar Dinge, die sie freiwillig preisgab, nach den anderen zu fragen hatte keinen Sinn.
Kurz bevor sie das Tor und den halb zugeschütteten Graben davor erreichten, verhielt er sein Pferd vollends und drängte es ein Stück zur Seite, um Platz für die Nachfolgenden zu machen. Obwohl das Tor einst groß genug gewesen war dreißig Reiter nebeneinander passieren zu lassen, war es jetzt so mit Trümmern und Schutt blockiert, dass sich selbst ein einzelner Mann nur sehr behutsam hindurchbewegen konnte.
»Worauf wartet Ihr, Herr?«, fragte Karelian, der sein Tier wie er angehalten hatte.
Cavin lächelte beinahe verlegen. »Ich … weiß es nicht«, gestand er. »Ich weiß immer noch nicht, ob es richtig war.«
»Eure Entscheidung?« Karelian machte eine undeutbare Geste mit der Hand. »Es wird sich zeigen. Und ganz gleich, was die anderen sagen – Ihr habt verhindert, dass sich der Schwarzckeichenwald in ein Meer von Blut verwandelt. Ist das nicht Erfolg genug? Viel mehr Sorgen macht mir Gwenderon«, fuhr er leise fort. »Ihr habt nichts von ihm gehört?«
Cavin schüttelte betrübt den Kopf. »Nein. Guarrs Späher hackben seine Spuren verfolgt, bis sie sich im Wald verloren haben. Guarr ist zwar sicher, dass sie ihn finden, aber …« Er seufzte, schüttelte den Kopf und sah nach oben, in den tief hängenden, mit Schnee gefüllten Himmel. »Ich bete zu den Göttern, dass er nichts tut, was er bereut. Lassar wartet nur auf einen Vorwand, ihn zu töten.«
Karelian nickte besorgt, sagte aber nichts mehr, sondern ließ sein Pferd weitergehen, sodass Cavin ihm folgen musste, wollte er nicht allein zurückbleiben. Sie passierten das Tor. Der Nebel, der nicht nur den Boden, sondern auch das Geräusch der Pferdehufe verschluckt hatte, blieb hinter ihnen zurück.
Es kostete Cavin immer größere Überwindung, wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben und sich seine Nervosität nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Sein Blick irrte beständig hierhin und dorthin, tastete über die Mauern der Megidda, strich an den Zinnen entlang, suchte den Turm und kehrte zurück zum Tor. Vor der breiten Freitreppe des Gebäudes, das er und die Seinen bewohnten, standen drei ungleiche Gestalten – zwei von Guarrs riesig gebauten Raetts und bei ihnen, zwischen den beickden Giganten, die ihn um dreifache Haupteslänge überragten, klein und verloren wirkend, ein Mann mit schütter gewordecknem grauem Haar. Cavin erinnerte sich flüchtig, dass sein Nackme Arcen oder Arven lautete und er einer der drei Männer in der Burg war, die sich auf die Heilkunst verstanden. Etwas an ihrem Anblick irritierte ihn. Diese drei waren nicht nur aus dem Haus gekommen, um die Heimkehrer zu begrüßen und zu fragen, wie alles verlaufen war. Sie warteten. Auf ihn.
Die Echos der Hufschläge wandelten sich in ein helles, mecktallisches Klacken, als sie weiterritten und auf Arcen und die beiden Raetts zuhielten. Zehn Schritte vor der Treppe hielt Cavin sein Pferd an, schwang sich aus dem Sattel und legte die letzten Meter zu Fuß zurück. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Guarr sich mit einem erleichterten Pfeifen ebenfalls aus dem Sattel plumpsen ließ, während Karelian regungslos sitzen blieb. Sein Gesicht war schlaff vor Erschöpfung, jetzt, als sie in Sicherheit waren und die Anspannung von ihm abfiel. Dann schien auch ihm aufzufallen, in welch angespannter Haltung die beiden Raetts und Arcen dastanden, denn er runzelte die Stirn, schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel und eilte an Cavins Seite.
»Was ist geschehen?«, begann Cavin, ohne sich mit Förmcklichkeiten wie einer Begrüßung aufzuhalten.
»Gut, dass Ihr zurück seid, Herr«, antwortete Arcen. Er wirkckte sehr ernst. »Kommt mit. Und Ihr auch, Karelian«, fügte er hinzu, an den Waldläufer gewandt.
Karelian tauschte einen fragenden Blick mit Cavin, aber der antwortete nur mit einem Achselzucken darauf und bedeutete Karelian mit einer Geste, sich zu gedulden. Sie hätten ohnehin keine Antwort von Arcen erhalten, denn der Heiler war bereits herumgefahren und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, wobei er sich ungeduldig umsah, ob Cavin und Karelian ihm auch folgten.
In der Burg herrschte die gleiche unnatürliche Stille wie immer, ein Schweigen, das selbst das Trappeln Arcens und ihrer beider Schritte aufzusaugen schien, und das gleiche dämmerige Halbdunkel, das geherrscht hatte, als er gegangen war. Cavin wäre nicht einmal überrascht gewesen, den gleichen schlafenden Raett-Wächter vor der Tür seines Gemaches zu finden; die Zeit hatte hier drinnen keine Bedeutung, oder zumindest nicht die, die sie außerhalb der nachtschwarzen Mauern der Megidda hatte.