Arcen öffnete ungeduldig die Tür, stieß sie so weit auf, dass Cavin und Karelian hindurchschlüpfen konnten, ehe sie wieder zufiel, und durchquerte die große Kammer, die ihnen als gemeinschaftlicher Wohn-, Aufenthalts- und Beratungsraum diente. Cavin registrierte verwundert, dass er offenbar auf sein, Cavins, Schlafgemach zuhielt, der einzige Raum in dem von Menschen bewohnten Teil der Megidda, den bisher alle respekcktiert hatten. Nicht einmal die beiden Raetts, die ihm als persönckliche Diener zur Verfügung standen, betraten ihn ohne seine ausdrückliche Genehmigung.
Der leise Anflug von Unmut, den er verspürte, verschwand sofort, als er die reglose Gestalt in seinem Bett sah.
Im ersten Moment erkannte er sie kaum, denn es war lange her, dass sie sich gesehen hatten, und unter denkbar ungünstigen Umständen, dann schrie Karelian plötzlich auf, rief Animahs Namen und war mit einem Satz an Arcen vorbei und am Bett.
Arcen riss ihn zurück, ehe er die Schlafende erreichen konnte.
»Nicht, Herr«, sagte er hastig, ließ Karelians Arm los und fügte mit einem gleichermaßen erklärenden wie verlegenen Lächeln hinzu: »Ich bin froh, dass sie schläft. Sie ist sehr schwach. Bis heute Morgen hatte sie hohes Fieber.«
»Was ist geschehen?« Cavin schob den Heilkundigen mit sanfter Gewalt beiseite, gab Karelian ein Zeichen, vorsichtig zu sein, und näherte sich ebenfalls dem Bett, sehr leise und fast auf Zehenspitzen. Trotz der schlechten Beleuchtung konnte er erkennen, wie ausgezehrt und krank die Waldläuferin war. Ihr Gesicht war eingefallen. Eine Anzahl frischer Narben entstellte ihre Haut und ihr Atem ging unregelmäßig und schnell. Sie roch nach Fieber und Krankheit. Selbst durch die Decke konnte Cavin erkennen, dass ihre Arme dick bandagiert und geschient waren.
»Animah«, murmelte Karelian. Sein Blick flackerte. Zum ersten Mal, seit Cavin ihn kannte, schien er dicht davor zu steckhen, die Beherrschung zu verlieren. Cavin war ein wenig überrascht – er hatte nie geahnt, dass Animah Karelian so nahe stand. Bestürzt gestand er sich ein, dass er niemals auch nur auf den Gedanken gekommen war, Karelian danach zu fragen.
»Ich … ich dachte, sie wäre tot.«
»Das dachte ich auch«, sagte Cavin. »Was ist geschehen, Arckcen? Wie kommt sie hierher?«
»Niallyc brachte sie«, antwortete der Heiler. »Einer von Guarrs Spähern.«
»Bring ihn zu mir«, verlangte Cavin, aber Arcen schüttelte nur bedauernd den Kopf.
»Das geht nicht, Herr. Er ist … gleich wieder aufgebrochen. Ihr wisst doch, dass die Raetts diesen Ort meiden. Aber er erckzählte mir alles. Er war in der Nähe Hochwaldens, nur eine Stunde oder zwei vom Fluss entfernt. Er rettete sie vor Lassars Kriegern.«
»Dann hat er sie nicht freiwillig gehen lassen?« Karelians Stimme bebte vor Wut. Er hatte das Bett umrundet und war auf die Knie gesunken. Seine Hand lag neben Ammans Schulter, berührte sie aber nicht.
»Freiwillig?« Arcen lachte bitter. »Mit Sicherheit nicht, Herr. Ich habe mit ihr geredet, aber ich weiß nicht, was von dem, was sie mir erzählt hat, stimmt und was sie im Fieber gesprochen hat. Sie war gefangen, wie sie sagt, auf Hochwalden, und –«
»Hochwalden?«, unterbrach ihn Cavin. »Sagtest du: Hochwalden?«
Arcen nickte. »Das behauptet sie, Herr. Seit der Schlacht im Wald ist sie in einem von Hochwaldens Kerkern gewesen. Vor einer Woche hat Lassar sie dann herausgelassen, ich weiß nicht warum. Aber vor zwei Tagen gelang ihr die Flucht.«
»Vor zwei Tagen?« Karelians Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. »Das bedeutet –«
»Dass sie seine Gefangene war, während er mit mir und Gwenderon geredet hat, ja«, fiel ihm Cavin ins Wort. Eine kalte, entschlossene Wut machte sich in ihm breit. »Vielleicht waren wir nur ein paar Dutzend Schritte von ihr entfernt. Bei allen Göttern, vielleicht hat sie sogar gesehen, wie wir mit ihm sprachen.« Er machte eine auffordernde Handbewegung zu Arcen. »Sprich weiter.«
»Als der Raett sie fand, wurde sie von Lassars Reitern gejagt, Herr. Niallyc hätte keine Minute später kommen dürfen. Einer der Krieger hatte sie gestellt und niedergeschlagen. Seine Hunde waren dabei, sie zu zerfleischen. Niallyc tötete die Hunde und den Mann und brachte sie her. Seitdem liegt sie im Fieckber.«
»Wird sie … leben?«, fragte Karelian stockend.
Arcen überlegte einen Moment, dann nickte er, aber sehr zögernd. Er war nicht ganz sicher. »Ich denke schon«, sagte er. »Es wird lange dauern, aber sie ist sehr kräftig. Und sie will leben, was sehr wichtig ist. Ich denke, sie wird es schaffen.«
»Dieser Hund«, murmelte Karelian. »Dieser verdammte Verräter.«
»Was wollt Ihr?«, fragte Cavin bitter. »Lassar hat uns Frieckden angeboten, keine Freundschaft.« Er sah, wie Karelian bei seinen Worten zusammenfuhr, und er konnte den Zorn des Waldläufers nur zu gut verstehen. Aber was hatten sie erwartet? Dass Lassar sich vom Herrn des Bösen zu einem warmherckzigen, guten Menschen wandelte?
»Dafür wird er bezahlen«, murmelte Karelian. »Was immer er ihr angetan hat, er wird dafür büßen, Cavin, das schwöre ich.«
Cavin schwieg.
15
»Sie sind da.« Die Stimme riss Gwenderon aus dem Dämmerckzustand, in den er im Verlauf der letzten Stunden versunken war. Er fuhr hoch, blinzelte den stämmig gewachsenen, grauckbraun gescheckten Raett einen Moment verständnislos an und fuhr sich dann mit der Hand über die Augen, wie um seine Müdigkeit auf diese Weise fortzuwischen. Abrupt stand er auf.
»Es ist gut, Gesset«, sagte er. »Du hast dich nicht sehen lassen?«
Der Raett schüttelte den Kopf. »Wie Ihr es befohlen habt, Herr. Es sind viele«, fügte er besorgt hinzu.
Gwenderon nickte. »Ich weiß, mein Freund. Wie weit … sind sie noch entfernt?«
Der Raett musste das unbewusste Zögern in Gwenderons Worten gehört haben, denn er legte den Kopf schräg und sah den grau gewordenen Mann einen endlosen Moment aus seinen kleinen, pupillenlosen Tieraugen an, ehe er antwortete: »Eine Stunde, Herr. Für sie, denn sie sind viele und müssen ihr Temckpo nach den Langsamsten ausrichten, und die Flöße sind schwer. Für uns die Hälfte. Aber es wird Zeit, dass wir das Lager abbrechen. Sie kommen rasch näher.«
Abermals nickte Gwenderon. Nichts von dem, was er hörte, hatte ihn überrascht. Es war ihm nicht schwer gefallen, sich in Lassars Lage zu versetzen in den letzten Tagen. Es gab viele Wege durch den Wald, aber nur wenige, die Lassar gehen konnte, wollte er seine Truppen rasch genug zur Küste bringen, um seinen Feinden in einem Überraschungsangriff in den Rücken zu fallen; was er offensichtlich beabsichtigte. Der Fluss floss nicht in gerader Linie zur Küste, sondern in den willkürlichen Kehren und Wendungen alles Natürlichen, und die gewaltigen Eisflöße waren schwerfällig. Trotzdem erreichten sie ein zehnmal höheres Tempo als eine Armee zu Fuß und Pferde, die sich durch das Uferdickicht oder gar den Wald hätte kämpfen müssen. Sie hätten sie verbrennen sollen, dachte Gwenderon zornig, allen Vorschlägen Lassars und Bedenken Cavins zum Trotz. Vielleicht hätte es ihrer aller Leben gekostet, aber der Preis wäre der Wald gewesen.
Bisher schien es, als hielte Lassar Wort – keiner seiner Männer hatte versucht den vorgeschriebenen Pfad zu verlassen oder gar in den Wald einzudringen – und trotzdem war Gwenderon sicher, dass der Magier einen Hinterhalt plante. Er konnte das Gefühl nicht begründen, aber er wusste es mit unumstößlicher Sicherheit. Lassar wäre nicht Lassar, wenn er sich das, was er sich mit Gewalt nehmen konnte, erkauft hätte.
Und er war erst recht kein Mann, der irgendetwas verschenkckte, wenn er nicht überzeugt war es mit zehnfachem Profit zurückzubekommen.
Gwenderon verschob die Lösung dieses Problems – wie die viel zu vieler in letzter Zeit – auf später, band sich mit raschen Bewegungen seinen Waffengurt um und trat gebückt aus der niedrigen Laubhütte, in der er die Nacht verbracht hatte. Das Lager – wie alle Lagerplätze der Rebellen nicht in den Wald geschlagen, sondern auf einer der zahllosen natürlich gewachsenen Lichtungen aufgebaut – befand sich bereits in Aufbruchstimmung: Pferde waren gesattelt oder wurden gerade gezäumt, die Feuerstelle war gelöscht, die provisorisch errichtete Koppel abgebaut, Bündel und Satteltaschen geschnürt. Gwenderon begriff, dass Gesset bis zum letzten Moment gewartet hatte ihn zu stören. Seit er Cavins Lager verlassen hatte, hatte er wenig Schlaf bekommen. Er schenkte dem Raett ein rasches, dankbares Lächeln, ging zu seinem Pferd, das bereits fertig aufgezäumt war, und stieg umständlich in den Sattel.