»Brecht das Lager vollends ab«, befahl er. »Und sorgt dafür, dass keine Spuren zurückbleiben. Wir treffen uns zur Mittagsstunde an der Weggabelung beim Rabenstein.«
»Ihr … reitet fort?«, erkundigte sich Gesset.
Gwenderon nickte. Wie alle seine Bewegungen wirkte auch dieses Nicken abgehackt und gezwungen. Es waren die Bewegungen eines Mannes, der zu müde war noch irgendetwas spontan zu tun. »Ich reite ihnen ein Stück entgegen«, sagte er. »Keine Sorge – sie werden mich nicht bemerken. Aber ich muss sie sehen.«
»Ich begleite Euch«, sagte der Raett.
Im ersten Moment wollte Gwenderon abwinken, aber dann beließ er es bei einem resignierten Seufzen und wartete, bis Gesset sein Pferd geholt und an seine Seite geritten war. Vielleicht war es gut, wenn er nicht allein ritt. Die zwei Tage, die seit seinem überhasteten Weggang verstrichen waren, hatten ihm Zeit zum Nachdenken gegeben. Er war sich der Tatsache, überstürzt gehandelt zu haben, vollkommen bewusst; ebenso wie er sich darüber im Klaren war, dass er ein vollkommen übermüdeter und dazu gereizter Mann war. Vielleicht war es besser, jemanden bei sich zu haben, der auf ihn Acht gab.
Schweigend ritten sie los, zuerst ein Stück am Fluss entlang, dann, als das Lager außer Sicht gekommen war, etwas westlich davon direkt zwischen den Bäumen hindurch. Nach Schnee riechende Kälte und die nie ganz weichende Halbdämmerung des Waldes umgaben sie und das monotone Wiegen des Pferdes begann ihn einzulullen. Immer öfter ertappte er seine Geckdanken dabei, auf eigenen Pfaden zu wandeln, und ein- oder zweimal fielen ihm die Augen zu; er war sich nicht sicher, ob er nicht eingeschlafen war, und sei es nur für Sekunden.
»Warum reitet Ihr nicht voraus und tut, was vernünftig wäre, nämlich Euch vierundzwanzig Stunden auszuschlafen?«, fragte Gesset plötzlich.
Gwenderon fuhr zusammen, wandte mit einer hastigen Beckwegung den Kopf und sah das Raett-Männchen mit einem schuldbewussten Lächeln an. »Sieht man es so deutlich?«, fragte er.
Gesset machte eine undeutbare Handbewegung. »Was? Dass Ihr am Ende Eurer Kräfte seid, Gwenderon? Nicht nur ich habe es bemerkt, Gwenderon.« Er seufzte tief. »Es nutzt niemandem, wenn Ihr Euch umbringt, Gwenderon. Cavin und dem Wald am allerwenigsten.«
Gwenderon verhielt sein Pferd mit solcher Plötzlichkeit, dass Gesset – der wie alle Raetts ohnehin Schwierigkeiten hatte, sich überhaupt im Sattel zu halten – nicht schnell genug reagierte und ein gutes Stück weitertrabte, ehe es ihm endlich gelang, sein Reittier zum Stehen zu bringen.
»Wolltest du mich deshalb begleiten, Gesset?«, fragte Gwenderon scharf. »Um mir Vorhaltungen zu machen? Oder hat dich Cavin geschickt, um auf mich aufzupassen?«
In Gessets Augen glomm ein unbestimmter Ausdruck von Trauer auf. »Nein«, sagte er mit einer Sanftheit in der Stimme, die so gar nicht zu seinem barbarischen Äußeren passen wollte. »Nur um auf Euch Acht zu geben, Gwenderon.«
Gwenderon starrte ihn an, schluckte ein paar Mal und senkte betreten den Blick. Gesset konnte nichts dafür, dass er überreizt und nervös war. Es tat ihm Leid, ihn zur Zielscheibe seickner schlechten Laune gemacht zu haben. »Verzeih«, murmelte er. »Ich wollte nicht –«
Gesset winkte ab. »Ich sage doch, Ihr seid übermüdet, Herr. Warum geht Ihr nicht zurück, ruht Euch aus und überlasst es uns, Lassars Krieger im Auge zu behalten?«
Einen Moment lang war Gwenderon wirklich versucht, auf den Vorschlag des Raett einzugehen. Aber dann schüttelte er entschlossen den Kopf und ließ sein Pferd weitertraben. Gessets Augen waren zehnmal schärfer als die seinen, so wie alle Sinne der Raetts viel höher entwickelt waren als die irgendeicknes Menschen, das wusste er. Was den Blicken Gessets oder seiner Späher entging, würde er schon gar nicht bemerken.
Aber es gab etwas, was nur er tun konnte.
Seine Hand glitt zum Sattelgurt und strich fast liebkosend über den länglichen, in Lederstreifen eingehüllten Gegenstand, der wie ein Speer daran befestigt war. Gessets Blick folgte der Geste, aber der Raett schwieg dazu, so wie er die ganze Zeit über nicht einmal gefragt hatte, was es war, das Gwenderon bei sich trug und wie seinen Augapfel hütete.
»Warum bist du bei mir, Gesset?«, fragte Gwenderon nach einer Weile. »Ich meine nicht jetzt und hier, sondern überhaupt. Du weißt, dass ich gegen Cavins Befehl handele.«
»Ihr würdet niemals etwas tun, was ihm schaden könnte«, sagte Gesset, als wäre dies Antwort genug.
»Trotzdem könnte er das, was du und die anderen getan hackben, Verrat nennen«, beharrte Gwenderon.
»Ist es denn einer?«, fragte der Raett. Seine Stimme klang amüsiert.
Gwenderon schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich könnte mich täuschen.«
»In Lassar?« Gesset lachte. »Schwerlich, Herr. Ihr nennt ihn, was er ist – einen Lügner.«
»Und wenn er diesmal die Wahrheit sagt?«
»Werden wir es herausfinden«, sagte der Raett leichthin. »Es ist kein Verrat, wenn wir uns davon überzeugen, dass seine Krieger das Abkommen einhalten. Er wird es nicht einmal beckmerken.«
Gwenderon nickte. »Ich hoffe es«, sagte er leise und wie zu sich selbst. »Denn wenn nicht –«
Gesset brachte ihn mit einer abrupten Geste zum Schweigen und verhielt sein Pferd. »Still!«
Auch Gwenderon hielt an und lauschte, aber alles, was er hörte, waren ihre eigenen Atemzüge und das Wispern des Windes. Doch er schwieg und gab keinen Laut von sich, während Gesset mit schräg gehaltenem Kopf und halb geschlossecknen Augen lauschte. Schließlich, nach Sekunden, die Gwenderon wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, drehte der Raett den Kopf und sah ihn an.
»Jemand kommt.«
»Lassars Männer?«
Der Raett zuckte mit den Achseln, sah sich rasch nach beiden Seiten um und deutete schließlich mit einer Kopfbewegung auf einen übermannshohen dornigen Busch, dessen Blattwerk sichere Deckung versprach. Ohne ein weiteres Wort lenkte Gwenderon sein Pferd herum und ließ es hinter den Busch trackben.
Gessets Sinne mussten noch schärfer sein, als Gwenderon bisher angenommen hatte, denn es vergingen fast fünf Minuckten, ehe auch er die Laute von Pferdehufen hörte, gedämpft vom weichen Erdreich des Waldbodens und begleitet vom leicksen, rhythmischen Klirren von Metall.
»Hier?«, murmelte er verstört. »Mehr als eine Meile vom Fluss entfernt?«
»Vielleicht ein Spähtrupp«, vermutete Gesset. »Es mag sein, dass Ihr nicht der Einzige seid, der misstrauisch ist, Herr.«
Sie warteten. Der Hufschlag kam näher, entfernte sich wieckder, kam abermals näher und brach dann für eine endlose Micknute ab, als der Reiter anhielt. Gesset deutete stumm nach vorne, und als Gwenderons Blick der Geste folgte, sah auch er einen Schatten. Seine Hand glitt zum Schwert und schmiegte sich um den lederbezogenen Griff, zog die Waffe aber nicht. Der Reiter kam näher, wuchs von einem flachen Umriss zu einem Körper heran; ein Gigant von mehr als zwei Meter Gröckße, gepanzert in schwarzes Eisen und mit Speer, Schild und Morgenstern bewaffnet.
Gwenderon erstarrte.
Es war nicht irgendein Krieger, den er sah. Nicht einer von Lassars Söldnern, auch keine der hirnlosen Raett-Kreaturen, die er versklavt und in seine Rüstung gezwungen hatte, sondern einer der Furcht einflößenden Schattenkrieger, denen er und Cavin in den Ruinen Hochwaldens begegnet waren.