Sein Puls begann zu jagen und mit einem Male ging sein Atem so schnell, dass Gesset alarmiert aufsah und ihm beruhigend die Hand auf den Arm legte. Alles in ihm schrie danach, die Waffe zu ziehen und die Kreatur zu töten, was immer sie sein mochte. Aber Gwenderon tat es nicht, sondern nahm im Gegenteil die Hand vom Schwert und ballte nur in hilflosem Zorn die Fäuste auf dem Sattel.
Der Krieger näherte sich ihrem Versteck, verhielt sein Pferd und hob wie ein schnüffelnder Hund den Kopf. Ein sonderbarer, ganz sicher nicht menschlicher Laut drang unter seinem geschlossenen Visier hervor, und für einen Moment – den Bruchteil einer Sekunde nur, und doch für einen Augenblick, den Gwenderon nie wieder in seinem Leben vergessen sollte – konnte er direkt in die schmalen Sehschlitze seiner eisernen Larve blicken.
Gwenderon war sicher, dass dahinter keine Augen gewesen waren.
Langsam ritt der Fremde weiter, hielt dabei aber immer wieckder an, um wie ein Hund die Luft einzusaugen und Witterung aufzunehmen, bis er schließlich so überraschend verschwand, wie er gekommen war. Aber auch danach blieben Gwenderon und Gesset noch für endlose Augenblicke reglos und gebannt hinter ihrer Deckung. Selbst ihre Pferde verhielten sich still, als hätten auch sie das Fremde, Böse gespürt, das den Reiter umgab wie eine unsichtbare, böse Aura.
»Was … war das?«, flüsterte Gesset schließlich. Seine Stimme klang gepresst und erinnerte jetzt viel mehr an das Pfeifen und Quieken, mit dem sich die Raetts normalerweise verständigten.
Sein Blick flackerte.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Gwenderon. »Eine von Lassars Kreaturen. Ich … bin ihnen schon einmal begegnet, in Hochwalden. Ich weiß nicht, was es war. Sicher kein Mensch.«
»Kein Leben«, sagte Gesset leise.
Gwenderon starrte ihn an. »Was sagst du da?«
»Es lebt nicht«, behauptete der Raett. Seine Stimme zitterte jetzt. Gwenderon sah, wie sich das Fell in seinem Nacken aufrichtete, als wäre es gegen den Strich gebürstet worden. Der Raett schien halb wahnsinnig vor Angst zu sein.
»Es lebt nicht«, wiederholte er. »Es ist tot, Gwenderon. Es atmet Unheil. Was war das? Was tut es hier?«
Sekundenlang starrte Gwenderon den Raett noch an, dann wandte er den Blick und sah in die Richtung, in der der unheimliche Reiter verschwunden war. »Ich weiß es nicht, Gesset«, flüsterte er. »Aber ich werde es herausfinden. Komm!«
16
Der Wind war kalt hier oben, und vielleicht war das der Grund, aus dem er so oft hierher kam: der Wind. Er erinnerte ihn an seine Heimat, an Hochwalden. Von allen Erinnerungen, die Cavin an das Haus seiner Kindheit hatte, war dies die intensivckste gewesen, ohne dass er jemals eine Erklärung dafür gefunden hätte: der Wind, der hinter den Zinnen des höchsten Turmes von Hochwalden immer gleich gewesen war, ganz egal ob es Sommer oder Winter war. Und so hatten ihn seine Schritte wieder hier herauf geführt, auf den Turm, von dem aus er die ganze gewaltige Festung und einen guten Teil des Waldes überblicken konnte, mit dem so viele Erinnerungen verbunden waren.
Nicht alle davon waren gut. Und in die, die gut waren, mischte sich ein sonderbares Gefühl der Bedrückung, das er sich nicht erklären konnte, das aber schlimmer wurde, mit jeder Stunde, die verging. Der zweite Tag, dachte er bedrückt. Der zweite Sonnenaufgang, seit er Lassar die Antwort auf seine Frage hatte ausrichten lassen, die Entscheidung, die ihn bisher einen Freund gekostet hatte und ihn vielleicht sein Königreich kosten würde. Cavin fühlte sich müde. Er hatte eine Entscheickdung getroffen – eigentlich zum ersten Mal überhaupt, solange er denken konnte – und er hatte sie aus sich heraus getroffen, nur auf seine innere Stimme vertrauend, ganz wie Faroan es ihm gesagt hatte, doch wusste er noch immer nicht, ob sie richtig gewesen war. Vielleicht hatte er alles damit verspielt, vielleicht alles gewonnen. Und vielleicht gab es noch eine dritte Möglichkeit.
Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn aufsehen. Cavin wandte sich um und lächelte automatisch, als er Karelian erkannte. Wie er selbst wirkte der Waldläufer ernster und besorgter als sonst, und wie er hatte er in der vergangenen Nacht – der ersten seit ihrer Rückkehr vom Fluss – keinen Schlaf gefunden; unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und seine Haut glänzte wächsern im roten Sonnenlicht. Cavin wusste, dass er die ganze Nacht bei Animah gewacht hatte, obwohl ihm Arcen mehr als einmal gesagt hatte, dass es nichts gab, was er für sie tun konnte. Der Gedanke erfüllte Cavin mit einem vagen Gefühl von Schuld, aber er war jetzt fast sicher, dass Karelian die schwarzhaarige Amazone liebte. Wie wenig er doch über die Männer und Frauen wusste, die seine Freunde waren.
»Ich hoffe, ich störe Euch nicht.«
Cavin verneinte. »Wobei wohl?«, fragte er.
Karelian zuckte die Achseln, trat neben ihn und stützte sich auf dem verwitterten Stein der Brüstung auf. Sein Blick glitt nach Süden.
»Ist es das, was Euch Sorge macht?«, fragte er.
Cavin sah in die gleiche Richtung. Natürlich gab es dort – wie überall – nichts anderes zu sehen als das endlose grüne Auf und Ab des Waldes, nur hier und da unterbrochen von zerrissecknen Schleiern grauen Morgennebels, den die Sonne noch nicht zur Gänze weggeschmolzen hatte. Aber natürlich wusste er, was Karelian meinte. Wenn er nur lange genug hinsah, dann glaubte er die Krieger beinahe zu sehen, einen schier endlosen Wurm aus Stahl und Fleisch, der sich durch den Wald fraß, langsam, aber unaufhaltsam.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Meine Entscheidung ist getroffen, Karelian. Es ist zu spät, sich Sorgen zu machen. Wenn es wirklich ein Fehler war, werden wir es früh genug zu spüren bekommen.«
Karelian drehte sich herum, sah ihn für einen Augenblick ernst an und deutete dann mit der Linken nach unten in den Hof. »Die meisten hier heißen Eure Entscheidung gut«, sagte er.
»Die meisten?«
»Wir sind fast zweihundert«, erinnerte Karelian, »Guarrs Raetts mitgezählt. Es ist schwer vorstellbar, dass so viele einer Meinung sein sollten. Aber die meisten sind es. Sie sind des Kämpfens müde.«
Des Kämpfens müde … In Cavins Ohren klang dieser Satz wie böser Spott. Sie hatten ja noch gar nicht gekämpft. Ein kleines Scharmützel hier, ein Überfall auf einen unwichtigen Posten dort – der erste wirkliche Angriff, der erste Hieb, der Lassar wirklich wehtun sollte, war zu einer Katastrophe geworden. Und doch glaubte er Karelian, wenn er sagte, die Männer seien müde. Lassar hatte sie zermürbt, einfach dadurch, dass er nichts tat.
»Und es ist noch etwas«, sagte Karelian nach einer Weile. »Sie haben Angst. Keiner will länger hier bleiben als nötig. Diese Festung macht ihnen Angst.«
Cavin beugte sich vor und ließ seinen Blick lange und nachdenklich über die zerborstenen Mauern und Türme der Megidckda streifen, ein Labyrinth aus schwarzen Felsen und noch dunkleren, scharf abgegrenzten Schatten, die das Licht der Sonne niemals erreichen würde. Was er spürte, war Alter, ein unglaubliches, Ehrfurcht gebietendes Alter, das irgendetwas in ihm berührte und zum Erstarren brachte. Und er war der König von Hochwalden, der Mann, in dessen Adern das Blut der Waldkönige floss, der – auf eine Art, die er nicht einmal zu ahnen wagte – Teil dieses gigantischen, finsteren Ortes war, tiefer mit ihm verbunden als irgendein anderer Sterblicher sonst. Was mochten die anderen erst empfinden?
»Du bist nicht gekommen, um über die Männer zu sprechen«, sagte er ohne auf Karelians Worte einzugehen.
»Nein.« Die Antwort des Waldläufers kam zögernd. »Es ist Animah.«
»Wie geht es ihr?«
»Arcen behauptet, gut«, antwortete Karelian. »Sie ist ein paar Mal erwacht. Vor einer Stunde war Quarr bei ihr und hat mit ihr geredet.«
»Ich weiß«, sagte Cavin. »Ich habe ihn darum gebeten.«
Karelian schwieg einen Moment. In seinem Gesicht arbeitete es und Cavin wusste ganz genau, was nun kommen würde. Er hatte dieses Gespräch gefürchtet. Vielleicht war er auch ein wenig deshalb hier heraufgegangen, um vor ihm zu fliehen.