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»Keine Ahnung. Nein, eigentlich nicht. Ich bin nur so betroffen und kann einfach nicht begreifen, wie ein Vater seinen Kindern so etwas antun kann?«

»Tja, ich bin auch kein Psychiater. Ich bin nur Käfer-Kid, wie du weißt.«

»Was für Legenden?«

»Bonnie. Das ist finsterster Aberglaube. Vergiss es.«

»Was für Legenden?«

»Na gut: Dieser Legende nach nimmt die Dämonin Itzpapalotl am Tage die Gestalt eines weißen Schmetterlings an, eben dieses Apollofalters. Unter den Azteken war Itzpapalotl der gefürchtetste aller Dämonen, eine Kreuzung aus Insekt und Monster. Die Ränder ihres Flügels bestanden aus Obsidianklingen und ihre Zunge war ein Opfermesser.

»Die Dämonin konnte sich verkleiden, dann trug sie ein Gewand, ein naualli, das sie wie einen normalen Schmetterling aussehen ließ.

»Itzpapalotl war die Herrin der Hexen und sie wachte über die schrecklichen Menschenopfer. Im aztekischen Kalender gab es dreizehn Unglückstage, die ihr zugeschrieben wurden. Sie war die Anführerin einer riesigen Schmetterlingsarmee, allesamt aus dem Totenreich auferstandene Hexen, die sie im Flug über Wälder und Städte führte.«

»Und was… was hat sie getan?«

»Sie trieb die Menschen in den Wahnsinn, sodass sie ihre Liebsten töteten.«

Bonnie starrte in ihre Teetasse, als wüsste sie nicht, was sie in den Händen hielt.

»Vielleicht einen Keks?«, fragte Howard. »Ich hab da eine hervorragende Sorte mit Pekannüssen…«

Die Wilden und die Widerspenstigen

Um elf Uhr dreißig hatte Bonnie eine Verabredung am Lincoln Boulevard in Santa Monica. Hier war der Schauplatz eines gemeinschaftlichen Selbstmords, und Bonnie sollte nach Besichtigung einen Kostenvoranschlag machen. Eigentlich hätte sie den Anwalt der Hinterbliebenen vor dem Haus treffen sollen, aber gerade als sie vorfuhr, rief der Anwalt an, um zu sagen, dass er sich verspäten würde. Seine Stimme klang, als würde er sich die Nase zuhalten.

»Verspäten? Wie lange brauchen Sie noch?«, fragte Bonnie.

»Sagen wir zwanzig Minuten.«

»Okay. Aber in einundzwanzig Minuten bin ich weg. In zwanzig Minuten und dreißig Sekunden bin ich auch weg.«

Sie saß in ihrem Wagen, hörte Radio und tippte im Rhythmus der Countrymusik auf ihr Lenkrad. Vielleicht sollte sie wieder einmal ihre Mutter besuchen, dachte sie. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Wegen ihrer Mutter hatte sie eigentlich immer ein schlechtes Gewissen, selbst wenn sie sie zweimal in der Woche besuchte. Es war, als läge eine ewig unausgesprochene Frage zwischen Mutter und Tochter. Eine Frage, die nie beantwortet werden würde. Eine Frage, die Bonnie nicht einmal kannte. Die Beziehung zu ihrer Mutter war wie eines dieser kryptischen Kreuzworträtsel, die nicht den kleinsten Hinweis auf die Lösung gaben.

Sie tippte die Nummer ihrer Mutter in ihr Mobiltelefon und legte sofort wieder auf, kaum dass ihre Mutter sich mit einem »Hallo« gemeldet hatte. Vielleicht wäre es besser, sie zu überraschen. Vielleicht wäre es besser, sie überhaupt nicht zu besuchen. Nein, wäre es nicht, dachte sie. Sie musste.

Der gemeinschaftliche Selbstmord hatte in einem weiß gestrichenen Eckhaus stattgefunden. Die Farbe blätterte schon ab, der Rasen war ungepflegt, die Vorhänge waren verschlissen, ein umgekippter Einkaufswagen lag im Vorgarten. Die Kiefer im Garten warf einen dunklen Schatten auf das Haus und verstärkte das unheimliche Gefühl, dass an diesem Ort eine Tragödie stattgefunden haben musste.

Zwei Fenster im ersten Stock waren mit Spanplatten vernagelt, der obere Rand des linken Fensters war stark verrußt. Die schwarze Spur sah aus wie ein wehender Schal. Bonnie wusste über den Fall nur, was Lieutenant Munoz ihr am Telefon erzählt hatte: Eine siebenundvierzigjährige Witwe hatte offenbar eine Affäre mit ihrem fünfzehnjährigen Neffen begonnen. Der Bruder der Witwe fand es heraus und drohte damit, die Polizei zu rufen und sie wegen Kindesmissbrauchs anzuzeigen. Noch in derselben Nacht legten sich die Witwe und ihr Neffe zusammen auf ein großes Bett im ersten Stock, Übergossen sich mit zwanzig Litern Premium-Plus-Benzin, und zündeten sich eng umschlungen an.

Bei lebendigem Leibe zu verbrennen ist nicht romantisch. Der Junge war vom Bett aufgesprungen und wahnsinnig vor Angst und Schmerz im Zimmer herumgerannt. Dabei hatte er die Vorhänge in Brand gesetzt. Dann war er immer noch brennend die Treppe heruntergestürmt und hatte versucht, aus dem Haus zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt müssen seine Finger aber schon so verkohlt gewesen sein, dass er nicht mehr in der Lage war, den Riegel zurückzuschieben und den Türgriff zu drehen. Die Feuerwehr fand ihn gegen die Tür gelehnt. Sein Leichnam klebte an der geschmolzenen Türfarbe wie ein verschrumpelter, grinsender Affe. Die Witwe war fast restlos verbrannt und ihre Überreste kaum von denen des Bettes zu unterscheiden. So wurde sie mit ihrer Matratze in einer Urne beigesetzt.

Bonnie sah auf die Uhr. Der Anwalt hatte noch genau vier Minuten Zeit. Sie war in Schweiß gebadet und so hungrig, dass ihr fast übel wurde.

Sie war gerade dabei den Schlüssel im Zündschloss zu drehen, als an der gegenüberliegenden Straßenseite ein rotes Porsche Cabriolet hielt, aus dem ein sonnengebräunter blonder Mann in weißen Shorts sprang. Unter dem Arm trug er zwei Tennisschläger. Er erinnerte Bonnie an irgendwen, aber ihr fiel nicht ein, an wen.

Auf dem Weg zum Nachbarhaus hielt der blonde Mann plötzlich an, drehte sich um, nahm die Sonnenbrille kurz ab, setzte sie wieder auf und kam auf sie zugelaufen. »Entschudigung, aber kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Ich komm schon klar, danke.«

Er legte eine Hand an den Türrahmen des Electra. Sein gebräunter Arm hatte feine, goldenen Härchen. Am Handgelenk trug er eine Rolex.

»Wissen Sie, was hier passiert ist?«, fragte er.

Sie war sich jetzt absolut sicher, dass sie sich schon einmal begegnet waren. Dabei gab es in ihrem Leben eigentlich gar keine Gelegenheiten, Männer dieser Kategorie kennen zu lernen. Sie wollte sich von ihm abwenden und starrte dann doch auf seine kräftigen Waden und die Beule vorn in seiner strahlend weißen Tennishose. Sie fühlte sich ertappt, hob den Blick und sah sich selbst in seiner voll verspiegelten Sonnenbrille. Zweimal. Plump, schwitzend, verzerrt.

»Allerdings weiß ich das.«

»In den letzten Tagen kamen hier immer wieder Gaffer vorbei. Leute, die aus ihrem Wagen steigen, sich die Nasen an den Fenstern platt drücken und sich anschließend gegenseitig im Vorgarten fotografieren. Eine Familie hat sogar gepicknickt. Mit Grill und allem drum und dran. Können Sie sich das vorstellen? Kalte Hühnerbeine.«

»Und jetzt denken Sie, ich wäre auch so ein Gaffer?«

»Was hier passiert ist, war eine menschliche Tragödie. Und ich sage nur, dass man solchen Tragödien mit mehr Respekt begegnen sollte.«

»Verstehe.«

»Also…«, er machte eine Art winkende Geste, »… dann möchte ich Sie nicht länger aufhalten.«

In diesem Moment wusste sie, wer er war. »Sie sind Kyle Lennox!«, sagte sie aufgeregt. »Jetzt hab ich’s. Kyle Lennox. Von Die Wilden und die Widerspenstigen!«

»Genau. Ich bin Kyle Lennox von Die Wilden und die Widerspenstigen, aber das ändert gar nichts. Ich wohne hier, und meine Nachbarn und ich haben die Schnauze voll von… Hyänen wie Ihnen. Ich habe Mrs Marrin gekannt. Sie war eine gute Freundin von mir. Und ihren Neffen kannte ich auch. Was glauben Sie eigentlich, was hier abläuft? Eine Wiederholung der besten Szenen?«

»Nein, nein.« Bonnie holte ein Visitenkarte aus dem Handschuhfach und reichte sie ihm. »Deshalb bin ich hier, Mr Lennox. Ich warte hier auf den Anwalt der Hinterbliebenen, um ihm einen Kostenvoranschlag für die Reinigung zu machen.«

Kyle Lennox hob wieder seine Sonnenbrille und besah sich die Karte. Er hatte die blauesten Augen, die Bonnie jemals gesehen hatte. Schon auf dem Bildschirm sah er gut aus, aber hier in Fleisch und Blut… Sie gab sich alle Mühe, nicht wieder auf seine Tennishosen zu starren.