»Also ehrlich«, sagte er, »das konnte ich ja nun wirklich nicht ahnen. Tut mir Leid.«
»Kein Problem. Ich kann gut verstehen, dass man nervös wird, wenn die eigenen Nachbarn auf diese Weise ums Leben kommen.«
»Nein, nein. Ich habe sie als Gaffer beschimpft, und dafür möchte ich mich entschuldigen.«
»Das müssen Sie nicht. Die Vermutung lag ja wirklich nahe.«
»Ich hab mir nie überlegt, dass es spezielle Reinigungskräfte, also eher Reinigungsfirmen gibt, die nach Selbstmorden und so aufräumen. Ist das denn nicht Aufgabe der Polizei?«
»Die verstehen nicht genug davon. Und ein Wischmop mit Eimer reicht in solchen Fällen nicht.«
»Meine Güte. Wer kommt auf so etwas? Sie haben wohl schon ein Menge scheußlicher Sachen gesehen, oder?«
»Hin und wieder schon. Meistens sind nur Flecken übrig.«
»Meine Güte. Und zu wie vielen… Tatorten gehen Sie so in der Woche?«
»Vier. Manchmal mehr. Irgendwer bringt ständig irgend wen um.«
»Meine Güte. Was war denn so das Schlimmste, das Sie jemals gesehen haben?«
Bonnie deutete auf die Visitenkarte, die Kyle Lennox immer noch in der Hand hielt. »Wären Sie vielleicht so nett, mir darauf ein Autogramm zu geben? Ich bin ein großer Fan Ihrer Serie. Bitte schreiben Sie >Für Duke<. Das ist mein Mann. Der ist schon kein Fan mehr, sondern eher ein Jünger.«
»Klar. Haben Sie was zu schreiben?«
Bonnie gab ihm den zerkauten Kugelschreiber von ihrem Klemmbrett und er signierte schwungvoll. »Bitte sehr: Für Duke – Jeder kann wild, und widerspenstig sein.«
»Also widerspenstig ist er. Richtig wild hab ich ihn allerdings schon länger nicht mehr erlebt.«
In diesem Augenblick hielt einige Meter hinter Bonnie ein metallicgrüner Coupe de Ville, aus dem ein kleiner Mann mit rotbraunen Haaren stieg. Er schlüpfte in ein beiges Sportsakko und winkte Bonnie freundlich zu.
»Der Anwalt?«, fragte Kyle Lennox.
»Nehme ich an«, sagte Bonnie und stieg aus.
»Dann verzieh ich mich lieber. Es war wirklich hochinteressant, Sie kennen zu lernen, Bonnie. Noch mal nichts für ungut für das Missverständnis. Ich hoffe, Sie können mir noch mal verzeihen.«
»Nein wirklich. Vergessen Sie’s einfach.« Bonnie lächelte ihn an. Erst als sie neben ihm stand, wurde ihr bewusst, wie groß er war. Und dass er nach Jugend und Kraft und Sonne und Hugo roch. Ihm verzeihen? Sie hätte ihm sogar verziehen, wenn er sie öffentlich der Unzucht mit dem Satan persönlich geziehen hätte.
Er lief zurück über die Straße, und sie sah ihm nach. Seinen federnden Gang schrieb sie großer Fitness und teuren Tennisschuhen zu. Der Anwalt der Hinterbliebenen stand plötzlich neben ihr. »Ist das nicht…«
»Ja. Er ist es. Und er hat mir gerade ein Autogramm gegeben.«
»Meine Frau dreht durch, wenn ich ihr das erzähle. Ich bin übrigens Dudley Freeberg von Freeberg, Treagus und Wolp.«
»Freut mich, Mr Freeberg.«
»Ganz meinerseits«, sagte Freeberg und grinste sie selig an.
Asche zu Asche
Wie in allen Häusern, in denen Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben waren, herrschte auch bei den Marrins eine fast unnatürliche Stille. Es war, als hielten die Wände im Angesicht des Grauens, dessen Zeuge sie wurden, den Atem an.
Noch mehr als die Stille fiel Bonnie allerdings der Gestank nach verbranntem Teppich auf. Kaum hatten sie und Dudley Freeberg das Haus betreten, rochen sie diese Mischung aus Benzin und verkokelter Wolle. Und noch ein Geruch lag in der Luft. Er erinnerte an alte, verkohlte Fleischreste, die an einem Grill klebten.
Beim Eintreten hatte Dudley Freeberg erst vorsichtig hinter die Tür gespäht, war dann zögerlich eingetreten und hatte sie wieder sorgfältig geschlossen. Die ehemals weiß gestrichenen Wände waren geschwärzt und warfen Blasen. Schwarz-bräunliche Schlieren wanden sich bis zur Decke. Am Türrahmen hingen Fetzen irgendeines Stoffes. Die Innenseite der Tür wies lange, tiefe, gleichmäßige Riefen auf, als habe jemand versucht, mit bloßen Händen die Farbe abzukratzen.
Bonnie zeigte auf die Fetzen. »Haut«, sagte sie.
Dudley Freeberg nahm seine Brille ab und starrte darauf.
»Haut?«, fragte er. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab.
»Genau. Und diese Kratzer hier sind entstanden, als die Feuerwehr seine Überreste von der Tür entfernt hat. Um die organischen Überreste und die Brandspuren kümmere ich mich, aber für solche Schäden wie hier an der Tür müssen Sie einen Maler kommen lassen.«
»Einen Maler«, sagte Dudley Freeberg mit ausdrucksloser Stimme. »Verstehe.«
Sie sahen sich schweigend in der Diele um. In dem hohen, großen Raum dominierten die Farben Gold und Flieder. Tote Gladiolen standen in einer hohen Vase auf einem nachgemachten Rokokotischchen. Ein goldgerahmter Druck zeigte zwei schlafende Mexikaner bei der Siesta mit großen Sombreros auf dem Kopf. Durch einen Türspalt erkannte Bonnie eine großzügige, in Eichenholz gehaltene Küche. Das Haus würde ihr auch gefallen, dachte Bonnie. Ein bisschen schäbig vielleicht, aber geschmackvoll und gemütlich eingerichtet und mit einer schönen geschwungenen Treppe.
Diese Treppe gab einen lebhaften Eindruck der letzten Momente im Leben des fünfzehnjährigen Liebhabers von Mrs Marrin: Er hatte schon lichterloh gebrannt, als er die Treppe heruntergerannt war und die verschmorten Spuren seiner Füße führten über den lila Teppich vom ersten Stock bis zur Tür. Mit seinem brennenden Händen musste er sich am hölzernen Treppengeländer festgehalten haben, denn auch hier hatte die Farbe Blasen geworfen und sich bräunlich verfärbt.
»Mein Gott«, sagte Dudley Freeberg. »Er muss wirklich durch die Hölle gegangen sein.«
»Wir gehen mal nach oben«, sagte Bonnie. Sie hatte keine Lust über die Hölle – ob auf Erden oder sonst wo – nachzudenken. Nicht an diesem Tag.
Sie gingen nach oben, fanden das Schlafzimmer und blieben stehen vor dem geschwärzten großen Bett, auf dem noch eine verkohlte Samtdecke lag. Am Kopfende des Bettes hing ein gerahmter verrußter Spiegel, durch den sich diagonal ein Riss zog. Bonnie sah sich neben Dudley Freeberg stehen. Sie sahen aus wie Figuren auf einer alten Sepia-Fotografie.
»Also«, sagte Bonnie und öffnete ihr Notizbuch, »das Bett kommt natürlich weg, genauso wie der Teppich. Die Rauch- und Rußspuren beseitige ich, Sie müssten aber streichen lassen. Wenn ich hier fertig bin, wird es so aussehen, als hätte es hier niemals ein Feuer gegeben.«
»Klingt gut. Einverstanden.« Dudley Freeberg nickte. Er schwitzte stark und seine Haut hatte eine teigige Farbe. Bonnie sah ihm an, dass er kurz vor einer Panikattacke stand.
»Ich denke, den Rest können wir draußen klären«, sagte sie schnell.
Er rannte fast die Treppe herunter und sprang dabei hin und her, um den verbrannten Fußabdrücken aus dem Weg zu gehen.
Während Bonnie im Wagen saß und einen Kostenvoranschlag schrieb, stand Dudley Freeberg daneben, hatte sich den Mantel über den Arm gelegt und tupfte sich immer wieder die Stirn mit einem verknüllten Kleenex ab.
Sie reichte ihm den Voranschlag, und er riss ihn ihr fast aus der Hand. »Toll. Geht in Ordnung. Ich spreche noch mit den Hinterbliebenen und dann ruf ich Sie an.«
»Jederzeit.«
»Und danke, dass Sie…«, er nickte in Richtung Haus.
»Daran kann man sich nicht gewöhnen. Niemand kann das. Man kann lernen, damit umzugehen, aber gewöhnen kann man sich nicht daran. Und das sollte man wohl auch nicht.«
»Na ja, jedenfalls danke.«