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Am nächsten Morgen

Ralph liebte sie am nächsten Morgen noch einmal. Stumm. Wie ein entspannter, geübter Schwimmer bewegte er sich langsam und gleichmäßig auf und ab. Nicht einmal ließ sein Blick von ihr ab.

Er sah viel jünger aus ohne Brille. Fast hätte man ihn als hübsch bezeichnen können. Auch sein Körper war überraschend gut gebaut.

Er atmete ruhig und gleichmäßig durch die Nase. Nur manchmal beugte er sich nach unten, um Bonnie zu küssen.

Als er zum Höhepunkt kam, packte er ihren Nacken und zog ihren Kopf an seine Brust. Sie hatte das Gefühl, als wolle er sie ganz umfangen und so halten und schützen bis in alle Ewigkeit.

Danach lagen sie Seite an Seite, und die Morgensonne fiel in breiten scharfen Streifen auf das Bett.

»Wir sollten wohl besser langsam aufstehen«, sagte Ralph, nahm seine Uhr vom Nachttisch und hielt sie sich nah vor das Gesicht. »Um acht haben wir dieses PR-Frühstück.«

Bonnie malte mit dem Finger kleine Kreise auf seine nackte Schulter. »Das ist schon irgendwie komisch. Duke war überzeugt davon, dass du versuchen würdest, mich ins Bett zu kriegen, und ich hab gesagt, du hättest nicht den Hauch einer Chance.«

»Und tut’s dir Leid?«

»Mit tut nur Leid, dass wir damit so lange gewartet haben. Ich hatte schon ganz vergessen, wie schön es sein kann.«

»Es geht gar nicht so sehr um Sex, finde ich. Es geht um die Persönlichkeit. Vanessa strahlt so viel Persönlichkeit aus wie ein leerer Koffer.«

»Du bist ein guter Liebhaber.«

Er küsste sie. »Ich hoffe, das ist erst der Anfang, Bonnie.«

»Wir haben beide Verantwortung, Ralph, wir sind keine Kinder mehr.«

»Gerade deshalb wünsche ich mir, dass das erst der Anfang ist.«

Sie setzte sich auf. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, schließlich hatte sie selbst kaum verstanden, was passiert war. Es war aufregend, schmeichelhaft und gefährlich.

Doch an diesem Morgen war die Welt nicht mehr so, wie sie noch am Abend zuvor gewesen war. Etwas hatte sich über Nacht verschoben. Alles sah vertraut aus, und doch war alles fremd.

Bonnie stand auf und ging zum Fenster. Eine Hand hatte sie wie schützend auf ihren Unterleib gelegt. Ralph beobachtete sie vom Bett aus, sah zu, wie sie die Vorhänge zurückzog. »Am liebsten würde ich weglaufen«, sagte sie und drehte sich zu ihm um. »Weglaufen und nie mehr wiederkommen.«

»Warum nicht. Wir können alles tun, was wir wollen.«

»Nein, können wir nicht. Wir haben beide Unternehmen zu führen. Menschen verlassen sich auf uns.«

»Wir verkaufen unsere Geschäfte und leben als Hippies in San Francisco.«

»Träum weiter, Ralph Kosherick.«

»Wer sagt, dass das Träume bleiben müssen, Bonnie Winter?«

Sie ging zum Bett hinüber, setzte sich auf die Kante und streichelte ihm durch das Haar. »Mir ist es lange nicht so gut gegangen, weißt du das?«

»Ich weiß. Mir auch nicht. Und darum will ich, dass das erst der Anfang ist.«

»Wir werden sehen«, sagte sie und küsste ihn auf die Stirn.

Das Kind in der Kiste

Ihren Wagen stellte sie hinter dem Chevy von Dan Munoz ab, stieg aus und ging die Auffahrt hoch. Dan stand an der Tür. Er unterhielt sich mit einem verhutzelten alten Mann im Safarianzug.

»Hallo, Bonnie.«

»Hallo, Dan. Nette Krawatte.«

»Danke. Von Armani. Darf ich dir George Keighley vorstellen? Er ist der Vermieter und wird uns alles zeigen. Dann kannst du sagen, was das kosten wird. George, das ist Bonnie Winter, die beste Putzfrau der Stadt, die Königin der Reinemachefrauen.«

George Keighley nickte ihr zu und hustete keuchend. Seine Haut hatte die Farbe von Leberwurst, die zu lange an der Sonne gestanden hatte. Seine Ohren waren groß und haarig und erinnerten an einen Hobbit.

Das Haus am Ivanhoe Drive sah mit seinen gelben Wänden, grünen Fensterläden und dem roten Dach aus, als hätte man ein Kind mit den Malerarbeiten beauftragt. Der Vermieter führte Dan und Bonnie in den schmalen Flur. Er war schlecht gelüftet und merkwürdigerweise mit fünf Esszimmerstühlen zugestellt. Von dort aus betraten sie das L-förmige Wohnzimmer. Sessel und Sofa passten nicht zusammen, dazwischen stand ein Beistelltischchen aus den Sechzigern, das orangefarbene Holzkugeln statt Beine hatte.

»Haben Sie über den Fall was im Fernsehen gesehen?«, fragte Dan.

»Nein. Was ist passiert?«

»Mieter des Hauses ist ein David Hinsey, vierundzwanzig. Er wohnte hier mit seiner Freundin Maria Carranza, zweiundzwanzig, und dem gemeinsamen Sohn Dylan, zweieinhalb Jahre alt. Hinsey hat Fernseher repariert und Carranza war Kassierin bei Kwik-Mart. Weil sie sich keinen Babysitter leisten konnten, haben sie den kleinen Dylan jeden Morgen zusammen mit einem Becher Orangensaft und ein paar Keksen in eine große zugeklebte Kiste eingesperrt, Luftlöcher hineingemacht und den Fernseher angemacht, damit er sich nicht so allein fühlte.«

»Mein Gott«, sagte Bonnie. »Wie lange musste er da drin bleiben?«

»Sechs bis sieben Stunden. Wenn Hinsey Überstunden machen musste, auch schon mal länger. Die Nachbarn wussten nicht, dass Hinsey und Carranza überhaupt ein Kind hatten.«

»Hier lang«, sagte George Keighley und hustete wieder. Sie gingen an einem muffig riechenden Badezimmer vorbei. Bonnie sah, dass die gläserne Tür der Duschkabine einen langen Riss hatte. Sie kamen zum Schlafzimmer.

»Wegen der Plünderer musste ich die Fenster geschlossen halten, darum stinkt es hier ein bisschen.«

Er öffnete die Tür und in dieser Sekunde nahm Bonnie den scharfen Gestank von geronnenem Blut wahr. Sie trat ein und sah sich um. Orange Vorhänge verdüsterten das Zimmer, und es brauchte einige Augenblicke, bis Bonnie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte und etwas erkennen konnte. Die typische, niederschmetternde Atmosphäre eines Ortes, an dem etwas Furchtbares geschehen war, spürte sie jedoch sofort, und das stärker als je zuvor in ihrem Leben. Ein unaussprechliches Grauen lag in der Luft. Was sich hier abgespielt haben musste, war wie eine Szene direkt aus der Hölle.

An der einen Seite des Raumes standen zwei Betten mit den Kopfenden aneinander. Bettwäsche gab es nicht, nur zwei alte, durchgelegene blaue Matratzen. Die Matratzen waren voller Blutflecken. An der Wand hinter den Matratzen waren Blutspritzer, blutige Handabdrücke, verschmierte und getrocknete Exkremente.

»Hinsey und Carranza konnten sich deshalb keinen Babysitter leisten«, sagte Dan, »weil sie ihr gesamtes Geld für Speed und Crack brauchten. Was genau passiert ist, werden wir wohl nie erfahren, aber es sieht so aus, als hätte Carranza sich aus Hinseys Drogenvorrat bedient. Der kam von der Arbeit nach Hause und überraschte sie dabei. Es kam zum Streit, Hinsey stach Carranza mit einem Küchenmesser nieder. Nicht nur einmal, obwohl schon der erste Stich tödlich war. Er hat zweihundertundsiebenmal auf sie eingestochen. Überall. Sogar in ihr Gesicht.«

»Und dann?«, sagte Bonnie. Sie hatte sich auf den blassgrünen Teppich gekniet, um einen rechteckigen dunklen Fleck besser begutachten zu können.

»Wir vermuten, dass Hinsey sich selbst getötet hat, nachdem ihm klar geworden war, was er angerichtet hatte. Er hat sozusagen Seppuku begangen, sich entleibt, stach sich mit dem Messer in den Bauch und dann so und so zickzack, bis seine Eingeweide vor ihm aufs Bett gefallen sind. Der Gerichtsmediziner meinte, es hätte sicher drei Stunden gedauert, bis er tot war.«

»Was für eine Sauerei«, sagte Bonnie.

Sie strich mit dem Finger durch den Teppich um festzustellen, wie tief der Fleck eingedrungen war. Hoher Polyesteranteil, dachte sie.

Dan stellte sich neben sie. »Natürlich war das Kind noch in der Kiste, und es kam nicht heraus. Erst nach fast einer Woche ist es an Flüssigkeitsmangel gestorben. Er war so hungrig gewesen, dass er sogar begonnen hatte, die Kiste von innen anzunagen.«