»Tut mir Leid, Bonnie. Ich habe einen Termin mit der Bank. Ich ruf dich morgen an.«
»Ralph…«
»Was glaubst du eigentlich, wie ich mich fühle, Bonnie? Weil’s mit Phil nicht geklappt hat, hast du eben mich genommen, die zweite Wahl? Toll. Du hast mich richtig aufgebaut, Bonnie.«
»Ralph, ich muss mit dir reden.«
»Ich kann nicht, Bonnie. Fahr einfach zu deiner verdammten Deponie.«
Duke gesteht
Aber Bonnie fuhr nicht zur Deponie. Sie bog stattdessen auf den Washington Boulevard und fuhr nach Hause. Schon als sie den Wagen vor dem Haus anhielt, hörte sie laute Rockmusik aus dem Garten. Bonnie öffnete die Haustür und rief: »Ray! He, Ray, kannst du mich hören? Mach die verdammte Musik leiser!«
Sie ging in die Küche und sah durch das Fenster in den Garten. Draußen war Ray. Er lag auf einer Liege und spielte mit geschlossenen Augen Luftgitarre. Neben ihm lag Duke mit nacktem Oberkörper und einem Sixpack neben sich. Er bohrte in der Nase.
Bonnie zog die Terrassentür auf und trat hinaus. Sie war schon fast bei ihnen, ehe Duke sie kommen sah. Mit dem Finger in der Nase erstarrte er.
»Was um alles in der Welt machst du hier, Duke?«, fragte Bonnie. »Ich dachte, du fängst heute wieder an zu arbeiten?«
»Die… äh… Die haben gesagt, dass sie heute zu viel Leute haben. Und weil sie mich nicht brauchten, haben sie mich wieder nach Hause geschickt.«
»Die haben dich nicht gebraucht? An deinem ersten Arbeitstag?«
»Genau so war’s. Das gibt’s hin und wieder. Na ja, das Geschäft geht nur schleppend und… da braucht man eben nicht so viele an der Bar.«
»Wir sprechen über das Century Plaza Hotel, das dich mitten in der Hauptsaison an deinem ersten Tag nicht hinter der Bar braucht, weil das Geschäft schleppend läuft? Sehe ich das richtig?«
Duke starrte sie nur an. Es war offensichtlich, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Ray lag im Liegestuhl neben ihm und öffnete erst jetzt die Augen.
»So wie ich das sehe, habe ich jetzt zwei Möglichkeiten, Duke«, sagte Bonnie. »Wenn du die Wahrheit sagst, dann rufe ich deinen Boss im Plaza an und stell ihn zur Rede. Wenn du lügst, dann spar ich mir das. Also?«
Duke sah Ray an, aber der zuckte nur mit den Schultern. Schließlich sah Duke wieder Bonnie an und sagte: »Spar dir das.«
»Du lügst also. Dann hätten wir das schon geklärt. Allerdings bleiben auch in diesem Fall zwei weitere Möglichkeiten: Entweder du bist einfach nicht zur Arbeit erschienen, ohne irgendwem was zu sagen. In diesem Fall würde ich jetzt anrufen und dich krank melden. Oder du hattest überhaupt nie eine Stelle im Century Plaza, du hattest nie auch nur die leiseste Absicht, dich im Century Plaza um eine Stelle zu bewerben. In diesem Fall könnte ich mir auch diesen Anruf sparen.«
Fast eine halbe Minute dachte Duke nach, ehe er »Yeah« sagte.
»Yeah was, Duke?«
»Yeah, spar dir den auch.«
Kurz nach drei an diesem Nachmittag rief sie Esmeralda an. »Es ist alles arrangiert«, sagte Esmeralda. »Wir treffen uns um acht in der Stadt.«
»Abgemacht.«
»Alles okay? Du klingst so angespannt.«
Sie drehte sich zu Duke und Ray um und sah sie auf ihren Liegestühlen im Garten liegen als sei nichts passiert.
»Ich hab alles im Griff«, sagte Bonnie. »Bis später.«
Der Mystiker
Esmeralda lebte in einem sechsstöckigen Wohnblock an der Sechzehnten Straße nahe des Santa Monica Freeway. Der braune Klinkerbau stand allein zwischen zwei verwahrlosten leeren Grundstücken. Vor dem Gebäude spielten Kinder in einem ausgenommenen, fensterlosen Ford Mercury.
Um fünf vor acht an diesem Abend stellte Bonnie ihren Buick neben den Mercury und stieg aus. Sie überprüfte ihren Lippenstift im Rückspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Der Verkehr an dieser Straße war ohrenbetäubend, die Abgase trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie stieg die wenigen Stufen zur angelehnten Haustür hoch. Sie war frisch gestrichen. Kastanienbraun. Der Linoleumboden dahinter war frisch gebohnert und auf Hochglanz poliert. Sie drückte auf den Klingelknopf für Apartment vier und wartete. Dann sagte eine männliche Stimme durch die Sprechanlage: »Quien?«
»Hier ist Bonnie Winter. Ich möchte bitte zu Esmeralda.«
»Ah ja, sie wartet schon. Kommen Sie bitte hoch.«
Sie ging den Flur entlang bis zum Aufzug. Eine der Apartmenttüren stand offen, und sie sah eine junge Frau vor einem Spiegel stehen und sich etwas ins Haar stecken. Aus dem Fernseher kamen spanische Stimmen. Das Mädchen lächelte sich im Spiegel an.
Der Aufzug war langsam und alt und stank nach Lysol, aber irgendjemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn mit sonnigen Postkarten aus Mexiko freundlicher zu gestalten.
Als die Aufzugtüren sich im vierten Stock öffneten, wartete Esmeralda schon davor. Sie trug ein karmesinrotes Satinkleid, das Bonnie noch nie an ihr gesehen hatte, und sogar ein karmesinrotes Band im Haar. »Juan ist schon da«, sagte sie im Flüsterton.
Sie schob Bonnie in ein kleines Wohnzimmer, das mit zu großen Möbeln aus den Fünfzigern zugestellt war: schokoladenbraunes Sofa mit Stickdeckchen auf der Rückenlehne, zwei schokoladenbraune Sessel, eine runder Tisch mit schokoladenbrauner Samttischdecke.
In der Ecke stand eine mit Porzellan und Nippes voll gestellte Vitrine. Auf dem Kaminsims standen, hingen und lagen so viele Kerzen, Rosenkränze, Ikonen, Marienbildnisse und -Statuen, dass der ganze Kamin wie der Altar in einer katholischen Kirche aussah.
Auf dem Sofa saß Esmeraldas Vater. Bonnie war ihm schon ein paarmal begegnet. Er war ein zurückhaltender Herr mit dichtem grauem Haar, Schnurrbart und stets makellosem weißem Hemd. In einem der Sessel saß ein dünner, fast schon abgemagerter Mann um die vierzig mit Aknenarben im Gesicht, scharf rasierten Koteletten, glatt zurückgegeltem Haar und tief liegenden Augen. Er war auf eine etwas wilde Art nicht unattraktiv. Unter einem schwarzen Anzug mit breitem Revers trug der Mann ein schwarzes Hemd mit silbernem Bolo-Tie.
»Bonnie, darf ich dir Juan Maderas vorstellen.«
Juan stand auf und ergriff mit beiden Händen Bonnies Rechte. Jetzt sah sie, dass er sicher an die zwei Meter maß, und sie roch sein blumiges Eau de Cologne, ein Duft, der Bonnie verunsicherte, weil sie sich plötzlich stark an die Blumen auf der Beerdigung ihres Vaters erinnert fühlte.
»Esmeralda hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Juan mit tiefer rauer Stimme. »Sie scheinen ein ganz besonderer Mensch zu sein, bei der Tätigkeit, die Sie ausüben.«
»Ich gebe mein Bestes«, sagte Bonnie. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen.«
»Nein, nein, das mache ich doch gern. Außerdem hat mir Esmeralda von den Faltern erzählt und so mein Interesse geweckt.«
»Es ist nur so, dass ich diese Falter noch nie gesehen habe, und in meinem Beruf wird man so eine Art Experte für Insekten aller Art.«
»Setzen Sie sich doch«, sagte Esmeraldas Vater. »Bring etwas Wein, Esmeralda.«
»Danke, aber ich muss noch fahren«, sagte Bonnie.
»Dann vielleicht eine Cola?«
»Außerdem muss ich auf meine Figur achten. Wasser reicht mir, danke.«
Sie setzte sich neben Esmeraldas Vater auf das Sofa. Auch Juan Maderas setzte sich wieder und legte die langen, dünnen Finger aneinander. An seinem rechten Mittelfinger prangte ein silberner Ring mit Totenkopf.
»Esmeralda hat mir erzählt, Sie hätten einen Falter ins Universitätslabor gebracht?«, fragte Juan.
»Zu Professor Howard Jacobson, ja. Er ist der Beste auf seinem Gebiet. Er hat einige Bücher über Insekten und ihre Bedeutung für die Gerichtsmedizin geschrieben. Oft kann man bei einer Leiche erst anhand von Insektenbefall unter Berücksichtigung von Temperatur und Feuchtigkeit den genauen Zeitpunkt des Todes feststellen.«