»Und dieser Professor Jacobson war sicher, dass es sich bei dem Falter um einen Apollo handelt?«
»Ja. Und er hat mir von der Legende erzählt. Diese Dämonengöttin, deren Name ich nicht richtig aussprechen kann.«
»Itzpapalotl«, sagte Juan Maderas. Übersetzt heißt das Schmetterling aus Obsidian<. Man nennt sie so, weil die Ränder ihrer Flügel mit Messern aus Obsidian gespickt sind.«
»Das hat Howard erzählt. Und auch, dass ihre Zunge ein Messer ist.«
»Stimmt. Itzpapalotl fiel vom Himmel zusammen mit den Tzitzimime, die viele Gestalten annehmen konnten. Manchmal waren sie Skorpione, manchmal Kröten und sogar Stabheuschrecken. All diese Tiere sind für uns der Tod. Ein Tzitzimime nahm die Gestalt eines Affenschädels an. Er tauchte mitten in der Nacht an Straßenkreuzungen auf, und wenn ein Unglücklicher ihn sah, verfolgte der schreiende Schädel den Armen bis nach Hause.«
Juan Maderas nahm einen Schluck Wein, bevor er weitersprach. »Manchmal trug Itzpapalotl einen unsichtbaren Mantel, sodass Menschen sie nicht sehen konnten. Dann wieder war sie fein gekleidet wie eine Lady am Hofe eines Königs, eine Lady mit Fingern wie Jaguarkrallen und Zehen wie Adlerklauen.
»An bestimmten Tagen des aztekischen Kalenders flog sie als Schmetterling durch die Städte und Dörfer und führte einen Schwärm von toten Hexen an, die ebenfalls die Gestalt von Schmetterlingen angenommen hatten. Sie drangen in Häuser ein, flüsterten den Menschen böse Worte ins Ohr und brachten sie dazu, ihre Frauen und Kinder zu töten. Itzpapalotl vergrößerte so ihre Gefolgschaft, denn die treuesten Hexen waren die, die ihre Familien am meisten geliebt hatten und sie trotzdem töteten.
»Genau«, rief Bonnie und nickte. »Sie brachten die Menschen um, die sie am meisten liebten. Genau das ist in all den Fällen passiert, bei denen ich die Schmetterlinge gefunden habe.«
Juan Maderas starrte Bonnie an. Seine tiefliegenden Augen glänzten wie schwarze Käfer: »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Glauben Sie wirklich, dass diese Leute von einem alten aztekischen Dämon getötet wurden?«
»Keine Ahnung. Klingt schon verrückt, oder? Wirklich völlig irre. Andererseits fehlte all diesen Leuten ein Motiv… jedenfalls für die Morde an den Kindern. Gut, die einen Eltern stritten sich ums Sorgerecht, die anderen hatten Drogenprobleme, aber da gab es eine Familie… da konnten alle bezeugen, dass der Vater geradezu vernarrt war in seine Kinder, trotzdem hat er sie ohne irgendeinen erkennbaren Grund erschossen.«
»Manchmal tun Menschen diese schrecklichen Dinge. Gerade Sie sollten das wissen. Das bedeutet aber nicht, dass sie von Itzpapalotl zu ihren Taten ermutigt werden.«
»Und doch war alles, was diese Fälle gemeinsam hatten, dieser seltene Falter und eine Verbindung zu Mexiko. Ich käme sonst nie auf die Idee, dass das was zu bedeuten hat, aber Howard Jacobson hat gesagt, dieser Apollofalter kommt in Kalifornien nicht vor. Ausgeschlossen.«
Juan Maderas schwieg. Dann nahm er einen Schluck Wein, zog ein schwarzes Samttaschentuch aus seiner Tasche und tupfte sich den Mund ab. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Noch immer glauben viele an Itzpapalotl und Micantecutli, den Herrn der Hölle, und an die Tzitzimime. Ich habe alte Männer Blut aus ihren Nasen und Ohren abzapfen und auf ihre Krückstöcke reiben sehen, weil sie glaubten, so die bösen Geister darin bannen zu können. Aber ich habe meine Zweifel.«
»Wie haben die Menschen Itzpapalotl zu bannen versucht?«
»Menschenopfer. Man schnitt ihr Herz heraus und sang dabei ein schmeichelhaftes Lied für die Göttin, die Mutter, die Beschützerin.«
»Hat es funktioniert?«
»Offensichtlich, jedenfalls sagen das die überlieferten Darstellungen der Azteken. Sie haben alles in Bildern festgehalten, jede Art der Opferung.«
Bonnie dachte nach. Dann sagte sie: »Ich bin ein praktisch denkender Mensch, Mister Maderas. Ich habe schon viele Leichen gesehen, und ich glaube nicht an Gespenster. Aber es geschieht gerade etwas sehr Seltsames, und dafür muss es einen Grund geben.«
»Vielleicht haben Sie Recht. Mexikaner haben es nicht leicht in Los Angeles. Es gibt viele Vorurteile und Ungerechtigkeiten. Vielleicht ist Itzpapalotl aus der Hölle aufgestiegen, um sie zu rächen.
In diesem Moment räusperte sich Esmeraldas Vater. »Als ich noch ein Kind war, gab es einen Ladenbesitzer, der eines Tages meine Mutter beleidigte. Später wurde seine Leiche im Griffith Park gefunden. Man hatte seine Zunge herausgeschnitten, so wie Xipe Totec, der die Nacht trinkt, seine Opfer tötet. Er schneidet ihnen die Zunge heraus, damit sie ihr eigenes Blut trinken, während sie verbluten.«
»Hat man den Täter je gefasst?«, fragte Bonnie.
»Wie sollte man. Es war Xipe Totec.«
Obwohl Bonnie zutiefst beunruhigt war, blieb sie noch eine Weile. Glaubte Juan Maderas an Itzpapalotl, oder machte er sich nur über sie lustig? Seine Stimme blieb stets nüchtern und gleichförmig, so als würden sie die Preise für Kartoffeln diskutieren, und doch hatte er auch etwas Verschlagenes. Hin und wieder warf Esmeraldas Vater rätselhafte Weisheiten ein wie »In der Hölle findest du keinen Schlaf« oder »Wenn der Tag der Rache kommt, musst du wach sein.«
Verwirrt und niedergeschlagen verließ Bonnie die Wohnung. Sie überlegte kurz, Ralph anzurufen, befürchtete aber, das könnte ihn noch wütender machen, als er ohnehin schon war. Nach der Nacht mit ihm in Pasadena war sie in Hochstimmung gewesen, vergessen die Demütigung auf Kyle Lennox’ Party. Sie hatte wirklich gedacht, ihr Leben könnte eine andere Wendung nehmen. Zwar hatte sie noch nicht gewagt, an eine Trennung von Duke zu denken, aber eigentlich hatte kaum mehr als ein Schritt zu dieser Entscheidung gefehlt.
Auf der Rückfahrt lief »Evergreen« im Radio und sie sang aus vollem Halse mit, während Tränen ihre Wange herunterliefen und auf ihre neue Jeans tropften. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Ralph sie nie mehr lieben würde.
Die Ampellichter verschwammen vor ihren Augen, Rot und Gelb und Grün tanzten wie Laternen bei einem mexikanischen Volksfest.
Ungewöhnliche Stille
Nachdem Bonnie am nächsten Morgen die Augen geöffnet hatte, fiel ihr als Erstes auf, wie still es im Haus war. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Der feine Riss, den sie dort sah, sah aus wie eine Hexe mit krummer Nase und spitzem Kinn. Sonnenstrahlen zuckten über die Decke, und die Hexe schien Bonnie zuzuzwinkern. Nach einer Weile setzte sie sich auf und schaute auf den Wecker. Es war zwanzig nach acht.
Sie erschrak. Duke würde zu spät zur Arbeit kommen, Ray zu spät zur Schule und sie musste…
Nein, wurde ihr plötzlich klar. Niemand kam zu spät. Duke hatte keine Arbeit, Ray ging nicht zur Schule, und sie hatte ihren Job verloren – wenn Ralph es sich nicht doch noch anders überlegt hatte.
Sie klopfte auf das Deckenknäuel neben sich. »Duke, es ist schon fast halb neun. Soll ich dir einen Kaffee machen?«
Sie wunderte sich nicht darüber, dass er keine Antwort gab. Duke hätte einen Flugzeugabsturz im Vorgarten verschlafen. »Also willst du Kaffee? Frühstück mache ich nämlich nicht, du sagst dann nur wieder, dass ich dich vergiften will.«
Immer noch keine Antwort. Sie wurde ungeduldig.
»Denk ja nicht, dass du heute den ganzen Tag im Bett liegen kannst, du wirst dir nämlich einen neuen Job suchen, Duke.«
Sie zog die Decke weg. Seine Seite war leer. Was Bonnie flüchtig für seinen Körper unter der Decke gehalten hatte, waren nur ein paar Kissen, die sie nachts von sich geschoben haben musste.
Verwirrt stand sie auf und schlurfte über den blauen Teppich in Richtung Bad. »Duke?« Aber Duke war nicht im Bad. Dafür war der Toilettensitz heruntergeklappt. Das erste Mal in der Geschichte ihrer Ehe überhaupt.