Bonnie zuckte nur mit den Achseln. »Ein bisschen Wick auf die Oberlippe, dann geht’s schon.«
Susan erschauderte.
Beim Essen klingelte Bonnies Mobiltelefon. Dean Willits war dran. Weil er gerade auf dem Ventura Freeway fuhr, war die Verbindung schlecht. »Ich habe mit Mrs Goodmans Versicherungsagenten gesprochen und der sagt, Sie sollen loslegen. Der Typ hat Frears angerufen und gemeint, er kennt Sie.«
»Na wunderbar, Mr Willits. Morgen Nachmittag sollte ich es einplanen können.«
»Frears hat die Schlüssel, okay?«
Bonnie wollte sich wieder ihrem Beefsteak widmen. Sie steckte ein Stück Fleisch und eine Gabel mit Mais in den Mund und begann zu kauen. Es schmeckte zäh und fettig, der Mais war nicht durch, sie musste plötzlich an die Betten der Kinder denken, die blutigen, zerfetzten Decken, und sie konnte einfach nicht schlucken, sondern spuckte, was sie im Mund hatte, in ihre Serviette.
»Was ist los«, fragte Susan. »Du bist plötzlich so – blass.«
»Ich musste nur an etwas denken, was ich heute Morgen gesehen habe. Aber du isst noch, ich werde also nichts davon erzählen.«
»Ich bitte dich, Susan. Dafür sind Freundinnen doch da. Du kannst mir alles erzählen.«
Also beschrieb Bonnie, was sie im Haus der Goodmans gesehen hatte, und Susan saß da und schaute und nickte.
»Das ist alles«, sagte Bonnie zum Schluss. »Ich weiß nicht, warum mich das mehr mitnimmt als andere Orte, die ich gesehen habe. Vielleicht ging es mir irgendwie wie Mrs Goodman. Die Kinder waren so… präsent, weißt du. Als ob man ihre Seelen noch spüren konnte.«
»Du konntest wirklich ihre Seelen spüren?«
»Ich weiß nicht… Irgendetwas habe ich gespürt. Als ob jemand da war, der eben eigentlich nicht da war, verstehst du? Es war beängstigend. Und bedrückend.«
»Du hast wirklich ihre Seelen gespürt. Das ist toll. Verstehst du, was das bedeutet?«
»Entschuldige, aber was meinst du?«
»Das ist Seelenwanderung. Und dass du das spüren kannst, zeigt nur, wie sensibel und empfänglich du bist. Du solltest wirklich mal zu meinem Kabbala-Lehrer mitkommen. Er heißt Eitan Yardani. Der Mann hat mich erleuchtet. Er kann deinem Leben so viel Sinn geben, weißt du.«
»Wovon redest du da, Susan?«
»Von der Kabbala, natürlich. Einfach jeder beschäftigt sich damit. Madonna, Elizabeth Taylor. Die Kabbala hat alle Antworten zu deinem inneren Selbst. Da ist ein Gott, En Sof, der ist so hoch über dem menschlichen Geist, dass manche Kabbalisten ihn Ayin, Den-Der-Nicht-Ist, nennen.«
»Aber die Kabbala, die ist doch jüdisch, oder? Ich bin katholisch.«
»Na und? Ist Madonna jüdisch? Bin ich jüdisch? Was spielt es für eine Rolle, welcher Religion du angehörst, wenn du die allumfassende Wahrheit finden kannst? Die Kabbala lehrt uns, dass alles im Leben Bedeutung hat, und sei es noch so versteckt. Dass diese Kinder gestorben sind, hatte einen Sinn, Bonnie. Und du könntest diesen Sinn in den Schriften finden.«
»Ich glaube nicht, dass ich den Sinn darin finden will.«
»Aber du hast ihre Seelen gespürt, Bonnie. Du hast die Kinder gespürt. Das ist kabbalistisch. Vielleicht willst du es nicht wissen, aber was ist, wenn die Kinder es dir sagen wollen?«
Bonnie wusste nicht, was sie sagen sollte. Susan war eine alte Freundin und nur das hielt sie davon ab, einfach die Gabel fallen zu lassen und zu gehen. Sie kannte Susans ständige Flirts mit dem Übersinnlichen. Bei ihrem letzten Treffen hatte sie nicht aufgehört, vom Dalai Lama zu schwärmen, und im Frühling war Sufi das Höchste gewesen. Aber Benjamin, Rachel und Naomi waren vor kaum vierundzwanzig Stunden ermordet worden. Weder die Kabbala noch Tarot oder irgendetwas anderes konnte ihren Tod erklären, es gab nur eine Erklärung, und die war so klar wie abstoßend: Der Vater der Kinder hatte den Verstand verloren und sie erschossen. Das war alles.
»Weißt du was, Susan?«, fragte Bonnie. »Du solltest mal mitkommen an den Tatort eines Mordes oder eines Selbstmordes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Blut so ein menschlicher Körper enthält.«
»Ich sagte ja, ich müsste kotzen.«
»Vielleicht. Und du würdest der Ewigkeit direkt in die Augen sehen ganz ohne Kabbala.«
»Machst du dich jetzt lustig über mich?«
»Überhaupt nicht«, sagte Bonnie und schob ihren Teller von sich. »Tut mir Leid. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen. Es war unfair.«
Susan hackte in ihrem Thunfischsalat herum. »Du hast dich verändert, weißt du das? Früher warst du nicht so zynisch.«
»Ich habe doch gesagt, dass es mir Leid tut.«
»Dabei wollte ich dir nur helfen, Bonnie. Ich wollte dir nur zeigen, dass man das Leben auch bejahen kann, weißt du. Ich meine, du siehst alles immer so negativ.«
»Was?«
»Ich kann einfach nicht… Ich weiß nicht, wie… Du bist wie eine Fremde für mich.«
»Wovon redest du? Was meinst du damit, dass ich wie eine Fremde bin?«
»Früher hast du gelacht. Du hast eigentlich immer gelacht. Du warst wie ein Sonnenschein.«
Bonnie kratzte sich verunsichert am Arm. »Ich lache doch jetzt auch noch.« Aber bei sich dachte sie: Wann? Wann habe ich das letzte Mal richtig gelacht?
»Ich will dir nicht wehtun, aber es ist so de-pri-mie-rend mit dir.«
»Ich deprimiere dich?«
Susan presste ihre Hände flach auf die Tischdecke und sah Bonnie direkt an. Sie atmete kurz und stoßweise. »Ich sage dir jetzt etwas, Bonnie. Ich stehe dem Leben positiv gegenüber. Es hat Jahre gedauert, bis ich das Positive im Leben erkannt habe. Und mit Leben meine ich die Schöpfung, die Erfüllung, die Transzendenz.«
»Klar. Verstehe. Geht mir auch so. Aber was willst du mir damit sagen?«
Susan öffnete den Mund wie für eine große Verkündung, schloss ihn aber wieder. Sie war so erregt, dass sie beinahe zu hyperventilieren schien. »Du… du bist vom Tod umgeben. Ich konnte es spüren, als du das Restaurant betreten hast. Der Tod umgibt und begleitet dich wie… wie ein Kleidungsstück. Wie ein schwarzer Schleier. Und das ertrage ich einfach nicht mehr. Es tut mir Leid, aber ich muss dir einfach sagen, was ich empfinde. Du machst mir Angst und du deprimierst mich, Bonnie.«
»Und? Bist du deshalb der Meinung, wir sollten uns in Zukunft nicht mehr treffen?«
Susan löste sich langsam in Tränen auf. Mit einer schwachen Bewegung winkte sie ab, ehe sie die Faust an ihre Lippen presste.
»Hör mal, Susan. Wenn wir uns nicht mehr treffen sollen, brauchst du es nur zu sagen. Ich will nicht als wandelnder Tod einen Schatten auf deine spirituelle Lebensbejahung werfen, wirklich nicht. Gott bewahre. Oder En Sof bewahre. Oder wer auch immer.«
Der Kellner trat an den Tisch und starrte irritiert auf die praktisch unberührten Teller. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
Susan fischte ein winziges Taschentuch aus ihrer winzigen Handtasche und putzte sich die Nase. »Ich übernehme das«, sagte sie, ohne Bonnie anzusehen, und legte ihre Platin American Express auf den Tisch.
»Der Tod. Ich bin der Tod«, sagte Bonnie, während sie auf die Rechnung warteten. »Denkst du das wirklich?«
»Tut mir Leid, Bonnie«, sagte Susan. »Ich habe Kopfschmerzen. Wahrscheinlich hattest du Recht, ich hätte einfach absagen sollen.«
Sie stand auf und Bonnie hielt sie am Ärmel fest. »Sehen wir uns wieder?«
»Bestimmt«, flüsterte Susan, aber Bonnie wusste, dass das eine Lüge war. Sie blieb sitzen, während Susan das Lokal verließ. Als sie den Sunset Boulevard im Laufschritt überquerte und ihr Haar zurückwarf, sah Bonnie sie zum letzten Mal. Ein Moment, eingefroren wie auf einem Polaroid. Sie musste an all die Tage und Nächte denken, die Parties und Bus-Trips, den Spaß und die Verzweiflung des Teenagerlebens. Am Venice Beach hatten sie sich sogar einmal geküsst. Sonnenuntergang. Die Schreie der Möwen. Sie liebten sich. Love, ageless, seldom seen by two.