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»Zwölf!«, riefen beide im Chor.

»Na gut, zwölf. Nicht so laut, die Leute schlafen. Beim Rummelplatz kriegt ihr bestimmt keinen Job. Stattdessen wird man euch in den Käfig stecken, der da für solche Fälle steht, und euch drin lassen, bis eure Eltern aufkreuzen. Bis dahin werden sich die Leute dort versammeln und euch anglotzen. Vielleicht werfen manche von denen euch Erdnüsse oder Speckkrusten rein.«

Die Bilson-Zwillinge starrten ihn bestürzt (und vielleicht auch erleichtert) an.

»Hört mal zu«, sagte Tim. »Ihr geht jetzt schnurstracks nach Hause, und ich folge euch, um dafür zu sorgen, dass euer kollektives Bewusstsein nicht auf dumme Gedanken kommt.«

»Was is denn ein kollektives Bewusstsein?«, fragte Robert.

»Das ist was, was Zwillinge angeblich haben, zumindest wenn man dem Volksmund Glauben schenkt. Habt ihr die Haustür genommen oder seid ihr durchs Fenster geklettert?«

»Fenster«, sagte Roland.

»Okay, dann klettert ihr da auch wieder rein. Wenn ihr Glück habt, merken eure Eltern gar nicht, dass ihr weg wart.«

»Werden Sie’s denen denn nich verraten?«, fragte Robert.

»Nicht, wenn ihr es nicht noch mal versucht«, sagte Tim. »Sonst sage ich denen nicht nur, was ihr getan habt, ich erzähle ihnen auch, wie frech ihr zu mir gewesen seid, als ich euch erwischt habe.«

»Waren wir doch gar nich!«, sagte Robert empört.

»Ich werde lügen«, sagte Tim. »Das kann ich ziemlich gut.«

Er folgte den beiden und sah zu, wie Robert Bilson eine Räuberleiter machte, um Roland in das offene Fenster zu hieven. Dann half Tim Robert auf dieselbe Weise hinein. Er wartete ab, ob irgendwo im Haus das Licht anging und darauf hinwies, dass die Möchtegernausreißer entdeckt worden waren. Als das nicht geschah, nahm er seinen Rundgang wieder auf.

13

Am Freitag- und Samstagabend waren mehr Leute unterwegs, zumindest bis Mitternacht oder ein Uhr morgens. Liebespaare vor allem. Anschließend gab es manchmal eine Invasion von Typen, die Sheriff John als Rennfahrer bezeichnete – junge Männer in aufgemotzten Pkws oder Pick-ups, die mit sechzig oder siebzig Stundenmeilen die leere Hauptstraße von DuPray entlangdonnerten. Sie lieferten sich Rennen und weckten die Leute mit dem nervigen Dröhnen ihrer Glasspack-Schalldämpfer auf. Manchmal schnappte ein Deputy oder ein Trooper von der State Police einen von den Typen und verpasste ihm einen Strafzettel (oder steckte ihn in eine Zelle, wenn er über der Promillegrenze lag), aber obwohl am Wochenende nachts vier Beamte im Dienst waren, kam es relativ selten zu Festnahmen. Meistens kamen die Rennfahrer ungeschoren davon.

Tim stattete Orphan Annie einen Besuch ab. Als er zu ihrem Zelt kam, saß sie davor und strickte Pantoffeln. Trotz ihrer Arthritis bewegten ihre Finger sich blitzschnell. Er fragte, ob sie sich zwanzig Dollar verdienen wolle. Ein bisschen Geld sei immer praktisch, sagte Annie, aber es hänge davon ab, worum es gehe. Als er es ihr erklärt hatte, kicherte sie.

»Klar, das mach ich gern, Mr. J. Aber bloß, wenn Sie ein paar Gläser Wickles dazugeben.«

Annie, die offenbar nicht auf halbe Sachen stand, nähte ihm ein Banner, das neun Meter breit und zwei Meter hoch war. Tim befestigte es an einer langen Stange, die er in der Werkstatt von Fromie’s Maschinenhandlung selbst aus Eisenrohren zusammengeschweißt hatte. Nachdem er Sheriff John sein Vorhaben erklärt und die Erlaubnis erhalten hatte, es zu versuchen, hängte er mit Unterstützung von Tag Faraday die Stange mit dem eingerollten Banner über der Kreuzung auf, wo zwei Straßen sich schräg von der Hauptstraße abspalteten. Das dazu nötige Kabel befestigten sie auf der einen Seite an der Blendfassade des Drugstores und auf der anderen an jener des aufgelassenen Kinos.

Ungefähr zu der Zeit, wenn die Kneipen am Freitag- und Samstagabend dichtmachten, riss Tim an einem Seil, worauf das Banner sich wie eine Jalousie entfaltete. Links und rechts hatte Annie darauf einen altmodischen Fotoapparat mit Blitz gemalt. Die Botschaft dazwischen lautete: LANGSAM, DU IDIOT! WIR FOTOGRAFIEREN DEIN NUMMERNSCHILD!

Das taten sie natürlich nicht (obgleich Tim sich die Autonummern notierte, wenn er genügend Zeit hatte, sie zu erkennen), aber Annies Banner zeigte tatsächlich Wirkung. Perfekt war es nicht, aber was im Leben war das schon?

Anfang Juli rief Sheriff John Tim in sein Büro. Tim fragte, ob er etwas falsch gemacht habe.

»Ganz im Gegenteil«, sagte der Sheriff. »Sie machen Ihre Sache gut. Das mit dem Banner ist mir anfangs verrückt vorgekommen, aber ich muss zugeben, dass ich unrecht hatte. Übrigens haben mich weder die Autorennen gestört noch die Leute, die sich beklagt haben, wir wären zu faul, die Chose zu beenden. Wohlgemerkt dieselben Leute, die Jahr für Jahr dagegen stimmen, dass unsere Gehälter erhöht werden. Was mich stört, ist die Schweinerei, die wir beseitigen müssen, wenn einer von diesen Rennfahrern sich um einen Baum oder einen Telefonmast wickelt. Durch so ’ne Dummheit zu sterben ist schlimm genug, aber wenn man nachher fürs restliche Leben gezeichnet ist… ich denke manchmal, so jemand ist noch schlimmer dran. Diesen Juni ist es allerdings ganz gut gelaufen. Besser als gut sogar. Vielleicht war es bloß eine Ausnahme von der Regel, aber ich glaube nicht. Ich glaube, es liegt an dem Banner. Sagen Sie Annie doch mal, dass sie damit womöglich ein paar Leuten das Leben gerettet hat. Und dass sie in einer von unseren Zellen schlafen kann, wenn das kalte Wetter kommt.«

»Das tue ich gern«, sagte Tim. »Wenn wir ein paar Gläser Wickles vorrätig haben, wird sie das Angebot bestimmt ausgiebig nutzen.«

Sheriff John lehnte sich zurück, wobei sein Stuhl so erbarmungsvoll ächzte wie eh und je. »Als ich gesagt hab, dass Sie für den Job als Nachtklopfer überqualifiziert sind, war mir nicht klar, was wir an Ihnen haben würden. Wenn Sie irgendwann nach New York weiterziehen, werden wir Sie vermissen.«

»Ach, ich hab keine Eile«, sagte Tim.

14

Das einzige Geschäft am Ort, das täglich vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, war Zoney’s Go-Mart draußen in der Nähe vom Lagerhauskomplex. Neben Bier, Limo und Chips wurde dort Benzin unter der Eigenmarke Go Juice verkauft. Von Mitternacht bis acht Uhr morgens saßen Absimil und Gutaale Dobira, zwei gut aussehende Brüder aus Somalia, abwechselnd an der Kasse. Als Tim in einer glutheißen Julinacht gerade am westlichen Ende der Hauptstraße seine Kreidezeichen machte, hörte er aus der Richtung, in der Zoney’s lag, einen Knall. Der war zwar nicht besonders laut, aber Tim wusste, wie sich ein Schuss anhörte. Es folgten ein Schrei, entweder vor Schmerzen oder Wut, und das Klirren von splitterndem Glas.

Tim rannte los. Die Kontrolluhr schlug ihm an den Oberschenkel, während er mit der Hand automatisch nach dem Griff einer Pistole tastete, die nicht mehr vorhanden war. An den Zapfsäulen stand ein Auto, und als er näher kam, stürzten zwei junge Männer aus dem Laden. Einer hatte etwas in der Hand, was wahrscheinlich Bargeld war. Tim sank auf ein Knie und beobachtete, wie die beiden in den Wagen sprangen und davonrasten. Von dem mit Öl und Fett befleckten Asphalt stiegen unter den Reifen blaue Rauchwölkchen auf.

Er zog sein Funkgerät vom Gürtel. »Zentrale, hier spricht Tim. Wer immer gerade Dienst tut, bitte melden!«

Es war Wendy Gullickson, die schläfrig und verärgert klang. »Was willst du, Tim?«

»Jemand hat Zoney’s überfallen. Hab einen Schuss gehört.«

Das weckte sie auf. »Du lieber Himmel, ein Raubüberfall. Ich bin gleich…«

»Nein, hör mir erst mal zu. Zwei Täter, männlich, weiß, knapp zwanzig oder etwas älter. Wagen Kompaktklasse. Eventuell ein Chevy Cruze, Farbe war in dem fahlen Licht nicht erkennbar. Neueres Modell, Nummer aus North Carolina, fängt mit WTB-9 an, die letzten drei Ziffern hab ich nicht erkannt. Gib das an die State Police und alle von uns raus, die auf Streife sind, bevor du irgendwas anderes tust!«