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»Also, ich hab nichts als fliegende Blätter gesehen«, sagte Sheriff John. »Und ich hab gehört, wie die ganzen Zellentüren zugekracht sind. Frank, George, hebt das Zeug doch bitte mal auf, ja? Wendy, geben Sie dem Jungen da eine Aspirin. Und dann sehen wir mal, was auf dem kleinen Computerdingsbums da ist.«

»Heute Nachmittag hat Ihre Mutter ständig von ihren Haarspangen geredet«, sagte Luke. »Sie hat gesagt, jemand hätte ihr die gestohlen.«

Sheriff John fiel die Kinnlade herunter. »Woher weißt du das?«

Luke schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich versuche nicht mal, es zu wissen. O Gott, wenn ich bloß wüsste, was die gerade machen. Und wenn ich bloß bei ihnen wäre!«

»Ich glaube an der Geschichte von dem Jungen da ist vielleicht doch was dran«, sagte Tag Faraday.

»Und ich will mir ansehen, was auf dem USB-Stick da ist«, sagte Sheriff John. »Jetzt sofort.«

20

Was sie zuerst sahen, war ein leerer, altmodischer Ohrensessel. Er stand vor einer Wand, an der ein gerahmter Druck von Currier and Ives hing, mit einem Segelschiff darauf. Dann schob sich das Gesicht einer Frau ins Bild. Sie starrte in die Kamera.

»Das ist sie«, sagte Luke. »Das ist Maureen, die Frau, die mir geholfen hat zu fliehen.«

»Sieht man mich?«, fragte Maureen. »Die kleine Lampe ist an, also müsste es klappen. Das hoffe ich jedenfalls, denn ich hab wahrscheinlich nicht die Kraft, es zu wiederholen.« Ihr Gesicht verschwand vom Bildschirm des Laptops, auf den alle blickten. Für Tim war das eine Erleichterung. Die extreme Nahaufnahme hatte so gewirkt, als würde der Kopf in einem Goldfischglas stecken.

Die Stimme wurde etwas leiser, war jedoch weiterhin hörbar. »Aber wenn es sein muss, schaffe ich es schon.« Maureen setzte sich auf den Sessel und zog sich den Saum ihres geblümten Rocks über die Knie. Außerdem trug sie eine rote Bluse. Luke, der sie nie ohne ihre Uniform gesehen hatte, fand das eine hübsche Kombination, aber die fröhlichen Farben konnten nicht verbergen, wie hager und ausgezehrt ihr Gesicht war.

»Dreh mal die Lautstärke auf«, sagte Frank Potter. »Sie hätte sich ein Mikro anstecken sollen.«

Inzwischen hatte sie zu sprechen angefangen. Tag Faraday setzte das Video auf Anfang, stellte den Ton lauter und klickte auf Play. Wieder setzte sich Maureen in den Ohrensessel, wieder zog sie ihren Rocksaum zurecht. Dann blickte sie direkt in die Kamera.

»Luke?«

Er war so verblüfft, seinen Namen zu hören, dass er beinahe geantwortet hätte, aber bevor er das tun konnte, sprach sie weiter, und bei dem, was sie sagte, wurde ihm eiskalt ums Herz. Obwohl er es bereits gewusst hatte, oder? Genau wie er die Star Tribune nicht gebraucht hatte, um zu wissen, was mit seinen Eltern geschehen war.

»Wenn du das hier siehst, bist du draußen, und ich bin tot.«

Der Deputy namens Potter sagte etwas zu dem namens Faraday, aber Luke achtete nicht darauf. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die Frau, die seine einzige Freundin unter den Erwachsenen im Institut gewesen war.

»Meine Lebensgeschichte werde ich dir nicht erzählen«, sagte die Tote in dem Ohrensessel. »Dafür ist keine Zeit, und darüber bin ich froh, weil ich mich für vieles schäme. Nicht für meinen Jungen allerdings. Ich bin stolz darauf, wie der sich gemacht hat. Bald geht er aufs College. Er wird nie erfahren, dass ich es bin, die ihm das Geld dafür gegeben hat, aber das ist in Ordnung. Das ist sogar gut so, denn so sollte es sein, weil ich ihn weggegeben habe. Und, Luke, ohne deine Hilfe hätte ich dieses Geld vielleicht verloren und damit die Chance, doch noch das Richtige für meinen Jungen zu tun. Ich hoffe bloß, dass ich das Richtige für dich getan habe.«

Sie machte eine Pause, wohl um sich zu sammeln.

»Einen Teil von meiner Geschichte will ich dir allerdings erzählen, weil der wichtig ist. Im Zweiten Golfkrieg war ich im Irak, in Afghanistan war ich auch, und dabei war ich an etwas beteiligt, was man als erweiterte Verhörmethoden bezeichnet hat.«

Für Luke war ihr ruhiger Redefluss – kein äh, kein weißt du, kein irgendwie oder sozusagen – eine Offenbarung. Er empfand dabei Verlegenheit, aber auch Kummer. Sie wirkte wesentlich intelligenter als bei den geflüsterten Gesprächen am Eiswürfelspender. Weil sie sich da dumm gestellt hatte? Eventuell, aber vielleicht – wahrscheinlich sogar – hatte er eine Frau in einer braunen Haushälterinnenuniform gesehen und einfach angenommen, dass sie nicht viel im Kopf hatte.

Im Gegensatz zu mir, dachte Luke und merkte, dass Verlegenheit nicht der richtige Ausdruck für das war, was er empfand. Der richtige Ausdruck dafür war Scham.

»Ich war beim Waterboarding dabei, und ich habe gesehen, wie Männer – und auch ein paar Frauen – in einem Wasserbecken standen, mit Elektroden an den Fingern oder im Rektum. Ich habe gesehen, wie Zehennägel mit der Kneifzange herausgezogen wurden. Ich habe gesehen, wie man einem Mann in die Kniescheibe schoss, weil er dem Vernehmer ins Gesicht gespuckt hatte. Zuerst hat mich das empört, aber nach einer Weile nicht mehr. Manchmal, wenn es Leute waren, die unsere Jungs mit Sprengfallen getötet oder Selbstmordattentäter auf überfüllte Märkte geschickt hatten, hat es mich sogar gefreut. Vor allem aber wurde ich allmählich… wie sagt man noch…«

»Desensibilisiert«, sagte Tim.

»Desensibilisiert«, sagte Maureen.

»Mannomann, als ob sie dich gehört hätte«, sagte Deputy Burkett.

»Still!«, sagte Wendy, und etwas daran brachte Luke zum Zittern. Als ob jemand anderes es direkt vor ihr gesagt hätte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Video zu.

»… nach den ersten zwei oder drei Malen habe ich nicht mehr an so was teilgenommen, weil sie mir eine andere Aufgabe gegeben haben. Wenn jemand nicht reden wollte, war ich die nette Soldatin, die hereinkam, um ihm was zu trinken zu geben oder was aus meiner Tasche zuzustecken, einen Müsliriegel oder ein paar Oreos. Dabei habe ich ihm erzählt, die Vernehmer hätten jetzt Pause oder wären essen gegangen, und die Mikrofone wären ausgeschaltet. Er würde mir leidtun, habe ich gesagt, und dass ich ihm helfen wolle. Wenn er nicht reden würde, dann würde man ihn töten, obwohl das gegen die Vorschriften wäre. Von der Genfer Konvention habe ich nie gesprochen, weil die meisten gar nicht wussten, was das war. Wenn sie nicht reden würden, dann würde man sogar ihre Familie umbringen, und das würde ich wirklich nicht wollen. Normalerweise hat das nichts gebracht, weil sie Verdacht geschöpft haben, aber manchmal haben die Gefangenen den Vernehmern später gesagt, was die hören wollten, entweder weil sie mir geglaubt haben oder mir glauben wollten. Manchmal haben sie auch mir etwas erzählt, weil sie verwirrt waren… desorientiert… und weil sie mir vertraut haben. Echt und ehrlich, ich hatte ein sehr vertrauenswürdiges Gesicht.«

Ich weiß, wieso sie mir das erzählt, dachte Luke.

»Wie ich im Institut gelandet bin… tja, die Geschichte ist zu lang, als dass eine erschöpfte, kranke Frau sie wiedergeben könnte. Jemand hat mich aufgesucht, beschränken wir es darauf. Nicht Mrs. Sigsby, Luke, und auch nicht Mr. Stackhouse. Von der Regierung war er ebenfalls nicht. Er war alt und hat gesagt, er würde Leute rekrutieren. Ob ich einen Job will, wenn mein Militärdienst vorüber ist. Leichte Arbeit, hat er gesagt, aber nur für jemand, der schweigen kann. Ich hatte überlegt, mich noch mal zu verpflichten, aber das hat sich besser angehört. Weil der Mann gesagt hat, ich würde meinem Land wesentlich mehr helfen, als ich das im Irak oder in Afghanistan jemals könnte. Deshalb hab ich das Angebot angenommen, und als sie mich zur Haushälterin gemacht haben, hat mich das nicht gestört. Natürlich wusste ich, was sie taten, aber zuerst hat mich auch das nicht gestört, weil ich wusste, warum es geschah. Das war gut für mich, weil es im Institut so läuft wie in der Mafia – wenn man mal drin ist, kommt man nicht mehr raus. Als ich nicht mehr genug Geld hatte, um die Schulden von meinem Mann zu bezahlen, und als ich Angst bekam, dass die Geier mir das Geld wegnehmen würden, das ich für meinen Jungen gespart hatte, habe ich vorgeschlagen, was zusätzlich zu machen, und das haben Mrs. Sigsby und Mr. Stackhouse genehmigt.«