»Spitzeln«, murmelte Luke.
»Es war so leicht, wie ein paar ausgelatschte Schuhe anzuziehen. Zwölf Jahre war ich im Institut, aber gespitzelt habe ich bloß die letzten sechzehn Monate, und am Ende hat mir das, was ich da tat, ein schlechtes Gewissen gemacht. Damit meine ich nicht bloß das Spitzeln. In den Geheimgefängnissen bin ich desensibilisiert worden, und entsprechend war ich auch im Institut anfangs unempfänglich, aber mit der Zeit hat sich das abgenutzt, so wie sich das Wachs auf einem Auto abnutzt, wenn man es nicht ab und zu erneuert. Es waren ja Kinder, weißt du, und Kinder wollen Erwachsenen, die freundlich und mitfühlend sind, gern vertrauen. Außerdem war es ja nicht so, als ob sie jemand etwas angetan hätten wie die Bombenleger früher. Im Gegenteiclass="underline" Man hat ihnen was angetan, ihnen und ihrer Familie. Trotzdem hätte ich vielleicht weitergemacht. Wenn ich ehrlich bin – und es ist zu spät für irgendetwas anderes–, wäre es wahrscheinlich sogar so gelaufen. Aber dann bin ich krank geworden, und ich bin dir begegnet, Luke. Du hast mir geholfen, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich dir geholfen habe. Jedenfalls nicht der einzige und auch nicht der Hauptgrund. Ich habe gemerkt, wie klug du warst, viel klüger als alle anderen Kinder und als die Leute, die dich entführt haben. Ich wusste, dass denen das völlig egal war, genauso wie ihnen dein Humor egal war und deine Bereitschaft, einer alten kranken Schachtel wie mir zu helfen, obwohl du wusstest, dass du dadurch Probleme kriegen kannst. Für die warst du bloß ein weiteres Rädchen in der Maschine, das man benutzen konnte, bis es verschlissen war. Am Ende wäre aus dir dasselbe geworden wie aus allen anderen. Aus Hunderten. Vielleicht sogar aus Tausenden, wenn man bedenkt, wie lange es das Institut schon gibt.«
»Ist sie wahnsinnig?«, fragte George Burkett.
»Klappe!«, sagte der Sheriff. Über seinen Bauch gebeugt, hatte er den Blick unverwandt auf den Bildschirm gerichtet.
Maureen hatte innegehalten, um einen Schluck Wasser zu trinken und sich dann die Augen zu reiben, die tief in ihren Höhlen versunken waren. Es waren kranke Augen. Traurige Augen. Sterbende Augen, dachte Luke, die der Ewigkeit direkt ins Gesicht blickten.
»Trotzdem war es eine schwere Entscheidung, und zwar nicht nur wegen dem, was sie mir oder dir hätten antun können, Luke. Es war deshalb schwer, weil wenn du es wirklich schaffst zu entkommen, wenn sie dich nicht im Wald oder in Dennison River Bend schnappen, und wenn du jemand findest, der dir glaubt… wenn du das alles schaffst, kannst du das, was sich hier seit fünfzig oder sechzig Jahren abspielt, an die Öffentlichkeit zerren. Es über den Köpfen von denen hier zusammenstürzen lassen.«
Wie Samson im Tempel, dachte Luke.
Sie beugte sich vor und blickte wieder direkt in die Kamera. Direkt in seine Augen.
»Und das könnte das Ende der Welt bedeuten.«
21
Die untergehende Sonne verwandelte die neben der State Route 92 verlaufenden Eisenbahngleise in rötliche Linien aus Feuer und ließ das Schild am Straßenrand erstrahlen wie im Scheinwerferlicht:
Denny Williams lenkte den an der Spitze der kleinen Kolonne fahrenden Van auf das unbefestigte Bankett. Die anderen reihten sich hinter ihm ein. Er instruierte erst die Insassen seines eigenen Fahrzeugs – Mrs. Sigsby, Dr. Evans, Michelle Robertson – und stieg dann aus, um dasselbe bei den anderen beiden zu tun. »Funkgeräte aus, Ohrhörer rausnehmen. Wir wissen nicht, welche Frequenz die örtliche Polizei und die State Police verwenden. Handys ausschalten. Von jetzt an ist die Operation völlig abgeschottet und wird es bleiben, bis wir wieder am Flugplatz sind.«
Er kehrte zu seinem Fahrzeug zurück, setzte sich hinters Lenkrad und wandte sich an Mrs. Sigsby. »Alles in Ordnung, Ma’am?«
»Alles in Ordnung.«
»Ich bin nur unter Protest hier«, sagte Dr. Evans wieder.
»Klappe«, sagte Mrs. Sigsby. »Denny? Los geht’s.«
Sie rollten durch Fairlee County. Auf der einen Straßenseite sah man Scheunen, Felder und Kiefernwäldchen, auf der anderen Bahngleise und noch mehr Bäume. Die Stadt war nun nur noch zwei Meilen entfernt.
22
Corinne Rawson stand vor dem Vorführraum und quatschte mit Jake »the Snake« Howland und Phil »the Pill« Chaffitz. Da sie als Kind von ihrem Vater und von zwei ihrer vier älteren Brüder missbraucht worden war, hatte sie nie ein Problem mit ihrer Tätigkeit im Hinterbau gehabt. Sie wusste, welchen Ruf sie bei den Kindern genoss, aber das störte sie nicht. In dem Trailer-Park in Reno, wo sie aufgewachsen war, hatte sie mehr als genug Ohrfeigen eingesteckt, und aus ihrer Sicht war das jetzt ein guter Ausgleich. Außerdem geschah es für eine gute Sache. Womit es sich um eine typische Win-win-Situation handelte.
Natürlich gab es Nachteile, wenn man im Hinterbau arbeitete. Zum Beispiel wurde einem der Kopf mit zu vielen Informationen zugekleistert. So wusste sie unter anderem, dass Phil sie vögeln wollte, Jake hingegen nicht, weil Jake nur auf Frauen mit Riesentitten und einem breiten Hintern stand. Und sie wusste, dass sie mit keinem von den beiden etwas zu tun haben wollte, jedenfalls nicht in der Hinsicht. Seit sie siebzehn war, war sie schlicht anders gepolt.
In Büchern und Filmen wurde Telepathie immer als tolle Sache dargestellt, aber im echten Leben war sie ausgesprochen nervig. Sie war mit dem Summen verbunden, was beschissen war, und sie steigerte sich, was doppelt beschissen war. Die Haushälterinnen und Hausmeister arbeiteten abwechselnd im Vorder- und im Hinterbau, was nützlich war, aber die in Rot gekleideten Pfleger arbeiteten hier und nirgendwo anders. Verteilt waren sie auf zwei Teams, Alpha und Beta. Jedes arbeitete vier Monate am Stück und hatte die nächsten vier Monate frei. Corinne stand kurz vor dem Ende ihrer aktuellen Viermonatsschicht. Anschließend würde sie eine oder zwei Wochen im nahen »Dorf« des Instituts entspannen, um ihr eigentliches Selbst wiederzugewinnen, und dann zu ihrem kleinen Haus in New Jersey fahren, wo sie mit Andrea zusammenlebte, die glaubte, dass ihre Partnerin in einem streng geheimen militärischen Projekt tätig war. Streng geheim war das Institut tatsächlich, militärisch war es nicht.
Während ihrer Zeit im Dorf würden ihre schwachen telepathischen Fähigkeiten allmählich nachlassen und bei der Rückkehr zu Andrea nicht mehr vorhanden sein. Einige Tage nach Beginn der nächsten Schicht würden sie sich dann wieder in sie hineinschleichen. Wäre Corinne zu so was wie Mitgefühl fähig gewesen (eine Empfindung, die man ihr schon im Alter von dreizehn Jahren weitgehend aus dem Leib geprügelt hatte), so hätte sie es Dr. Hallas und Dr. James entgegengebracht. Die waren praktisch immer hier, was bedeutete, dass sie dem Summen beinahe ständig ausgesetzt waren, und man sah, was das aus ihnen machte. Wie sie wusste, gab Dr. Hendricks, der leitende Mediziner des Instituts, den beiden Ärzten Injektionen, die den konstanten Verfall bremsen sollten, aber Bremsen war bei weitem nicht dasselbe wie Aufhalten.
Horace Keller, ein Pfleger im Hinterbau, mit dem sie befreundet war, bezeichnete Heckle und Jeckle als hochfunktionale Irre. Irgendwann, meinte er, würde einer von ihnen völlig ausrasten, vielleicht auch beide, und dann müssten die Bosse neue medizinische Talente finden. Corinne war das völlig egal. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Kids zum Essen gingen, wenn das angesagt war, in ihren Zimmern verschwanden, wenn sie das tun sollten (was die dort machten, ging Corinne nichts an), und an den Filmabenden im Vorführraum saßen und sich an die Regeln hielten. Wenn sie das nicht taten, klatschte Corinne ihnen eine.