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Ihre von einem blauen Latexhandschuh geschützte Hand kam ins Bild. Sie hielt eine Schlüsselkarte. Bis auf die Farbe – Hellorange – sah die Karte aus wie diejenige, die Luke geklaut hatte, aber er ahnte, dass die im Hinterbau arbeitenden Leute damit nicht so sorglos umgingen. Maureen hielt sie vor den Scanner über dem Knauf, es summte, und sie zog die Tür auf.

Dahinter lag die Hölle.

24

Orphan Annie war Baseballfan und verbrachte warme Sommerabende normalerweise in ihrem Zelt, um sich Liveübertragungen von Spielen der Fireflies anzuhören, eines Minor-League-Teams aus Columbia. Wenn ein Spieler der Mannschaft an die Rumble Ponies weitergereicht wurde, ein höherklassiges Partnerteam in Binghamton, freute sie sich einerseits für ihn und war andererseits traurig, ihn zu verlieren. Nach Spielende machte sie ein Nickerchen, und wenn sie aufwachte, schaltete sie die Sendung von George Allman ein, um zu hören, was in der Wunderbaren Welt des Wunderlichen vor sich ging, wie George es nannte.

Heute Abend jedoch war sie neugierig auf den Jungen, der von einem Güterzug gesprungen war. Deshalb beschloss sie, einen Ausflug zur Polizeistation zu machen und Nachforschungen anzustellen. Reinlassen würde man sie wahrscheinlich nicht, aber manchmal kamen Frankie Potter oder Bill Wicklow in die Durchfahrt mit Annies Luftmatratze heraus, um eine Zigarette zu rauchen. Wenn sie nett fragte, verrieten die ihr vielleicht, was es mit dem Jungen auf sich hatte. Schließlich hatte sie sich um ihn gekümmert und ihn ein bisschen getröstet, weshalb sie ein legitimes Interesse an ihm hatte.

Von ihrem Zelt in der Nähe der Lagerhäuser führte ein Fußpfad durch den Wald im Westen der Stadt. Wenn sie die Durchfahrt aufsuchte, um die Nacht dort auf ihrer Luftmatratze zu verbringen (oder in der Polizeistation, wenn es kalt war; das erlaubte man ihr, weil sie Tim bei seiner Anti-Raser-Kampagne geholfen hatte), dann folgte sie diesem Pfad bis zur Rückseite vom Gem, dem städtischen Kino, wo sie als jüngere (und geistig etwas gesündere) Frau viele interessante Filme gesehen hatte. Nun hatte das alte Gemmie schon vor mindestens fünfzehn Jahren dichtgemacht, und der Parkplatz dahinter war eine Wildnis aus Unkraut und Goldrute. Meist überquerte sie ihn und ging an der baufälligen Backsteinmauer des Kinos entlang zum Gehsteig. Gleich auf der anderen Seite der Hauptstraße waren die Polizeistation und der DuPray Mercantile, zwischen denen die Durchfahrt verlief, die sie als ihr Revier betrachtete.

Als sie an diesem Abend gerade vom Pfad auf den Parkplatz treten wollte, sah sie ein Fahrzeug die Pine Street entlangkommen. Ihm folgte ein weiteres… und noch eins. Drei Vans, dicht hintereinander. Und obwohl es schon dämmerte, hatten die nicht mal das Standlicht eingeschaltet. Annie stand zwischen den Bäumen und beobachtete, wie die Wagen auf den Parkplatz einbogen, wo sie synchron umdrehten und nebeneinander aufgereiht stehen blieben, die Schnauze zur Pine Street gerichtet. Fast so, als wollten sie später schnell die Flucht ergreifen.

Die Türen gingen auf, und mehrere Männer und Frauen stiegen aus. Einer der Männer trug ein Sportsakko und feine Hosen mit Bügelfalte. Eine der Frauen, die älter war als die anderen, trug einen dunkelroten Hosenanzug. Eine andere Frau hatte ein mit Blumen bedrucktes Kleid an. Die hatte eine Handtasche dabei, die restlichen vier Frauen nicht. Die meisten trugen Jeans und ein dunkles T-Shirt.

Bis auf den Mann im Sakko, der stehen blieb und zuschaute, bewegten alle sich flink und konzentriert, ganz so, als ob sie einen Auftrag hätten. Sie kamen Annie irgendwie militärisch vor, was sich bald bestätigte. Zwei Männer und eine von den jüngeren Frauen öffneten die Heckklappen der Wagen. Aus einem hievten die Männer eine lange Metallkiste. Aus einem anderen holte die Frau Gürtel mit Holster, die sie an alle verteilte, allerdings nicht an den Mann mit dem Sakko, einen anderen Mann mit kurzen blonden Haaren und die Frau in dem Kleid mit Blumenmuster. Die Metallkiste wurde aufgeklappt, und man entnahm ihr zwei Waffen mit langem Lauf, bei denen es sich nicht um Jagdgewehre handelte. Solche Dinger bezeichnete Annie Ledoux für sich als Schul-Attentäter-Flinten.

Die Frau in dem Blumenmusterkleid steckte eine kleine Pistole in ihre Handtasche. Der Mann neben ihr steckte sich eine größere hinten am Rücken in den Gürtel und zog sein T-Shirt darüber. Die anderen steckten sich ihre Waffen ins Holster. Alles in allem sahen sie wie ein Stoßtrupp aus. Verdammt, sie waren ein Stoßtrupp. Was anderes konnten sie eigentlich nicht sein.

Eine sogenannte normale Person, die ihre Abendnachrichten nicht von George Allman bezog, hätte womöglich nur verwirrt und erschrocken auf die Szene gestarrt und sich gefragt, was ein Haufen von bewaffneten Männern und Frauen wohl in einem verschlafenen Städtchen in South Carolina zu suchen hatte, wo es nur eine einzige Bank gab, die nachts zudem geschlossen hatte. Deshalb hätte so jemand sein Handy aus der Tasche gezogen und den Notruf gewählt. Annie hingegen war keine sogenannte normale Person und wusste daher genau, was diese bewaffneten Männer und Frauen, mindestens zehn an der Zahl, vielleicht auch mehr, im Schilde führten. Sie waren zwar nicht wie erwartet mit schwarzen SUVs gekommen, aber sie waren wegen dem Jungen da. Natürlich waren sie das.

Den Notruf zu wählen, um die Leute in der hiesigen Polizeistation zu alarmieren, war ohnehin keine Option für Annie, die selbst dann kein Handy dabeigehabt hätte, wenn sie sich eines hätte leisten können. Mobiltelefone verseuchten den Kopf mit Strahlung, das wusste jeder Trottel, und außerdem konnten sie dich dann lokalisieren. Deshalb folgte Annie weiter dem Fußpfad, jetzt im Laufschritt, bis sie die Rückseite des Friseurladens zwei Häuser weiter erreicht hatte. Eine klapprige Außentreppe führte zur Wohnung über dem Geschäft nach oben. Annie erklomm sie, so schnell sie konnte, wobei sie ihren Poncho und den langen Rock darunter anhob, damit sie nicht darauf trat und hinfiel. Oben angelangt, hämmerte sie an die Tür, bis sie hinter dem zerfetzten Vorhang sah, dass Corbett Denton seine voluminöse Wampe auf sie zuschob. Als er den Vorhang beiseitezog und hinausspähte, glänzte seine Glatze im Licht der mit Fliegendreck übersäten Küchenlampe.

»Annie? Was willst du denn hier? Du kriegst von mir nichts zu essen, falls…«

»Da sind Männer«, sagte sie keuchend. Sie hätte hinzufügen können, dass auch Frauen dabei waren, aber einfach nur Männer zu sagen klang in ihren Ohren furchterregender. »Die haben hinter dem Kino geparkt!«

»Mach, dass du fortkommst, Annie. Ich hab keine Lust, mir deine bekloppten…«

»Es geht um einen Jungen! Ich glaube, die Männer wollen in die Polizeistation und ihn entführen! Es gibt bestimmt gleich eine Schießerei!«

»Sag mal, was zum Teufel…«

»Bitte, Drummer, bitte! Die haben Maschinengewehre, glaube ich, und das ist wirklich ein ganz lieber Junge!«

Er öffnete die Tür. »Lass mich mal deinen Atem riechen.«

Sie packte ihn an der Brust seines Trägerunterhemds. »Ich hab schon seit zehn Jahren nichts mehr getrunken! Bitte, Drummer, die wollen den Jungen holen!«

Er schnüffelte und runzelte die Stirn. »Kein Alkohol. Hast du etwa Halluzinationen?«

»Nein!«

»Du hast von Maschinengewehren gesprochen. Meinst du vielleicht ein Sturmgewehr wie das AR-15?« Allmählich machte Drummer Denton einen interessierten Eindruck.

»Ja! Nein! Keine Ahnung! Aber du hast Waffen im Haus, das weiß ich! Die musst du mitbringen!«

»Du hast wohl den Verstand verloren«, sagte er, worauf Annie in Tränen ausbrach. Drummer kannte sie schon fast sein ganzes Leben – als beide viel jünger gewesen waren, war er sogar ein paarmal mit ihr ausgegangen–, aber er hatte sie noch nie weinen sehen. Offenbar glaubte sie wirklich, dass etwas Schlimmes vor sich ging, und Drummer beschloss, dass es nicht drauf ankam. Ohnehin war er nur mit dem beschäftigt gewesen, womit er jeden Abend beschäftigt war – über die Sinnlosigkeit des Lebens nachzudenken.