»Na gut, werfen wir mal ’nen Blick drauf.«
»Und deine Waffen? Du nimmst doch deine Waffen mit?«
»Nein, zum Teufel. Ich hab gesagt, dass wir ’nen Blick drauf werfen.«
»Drummer, bitte!«
»Ein Blick!«, sagte er. »Das ist alles, wozu ich bereit bin. Ja oder nein?«
Da Orphan Annie keine andere Wahl hatte, entschied sie sich für ja.
25
»Du lieber Gott, was ist denn das?«
Wendys Worte klangen gedämpft, weil sie die Hand vor den Mund geschlagen hatte. Niemand erwiderte etwas, alle starrten auf den Bildschirm. Luke war genauso vor Staunen und Entsetzen ergriffen wie alle übrigen.
Der hintere Teil vom Hinterbau – Station A, der Rübenacker – war ein langer, hoher Raum, der wie diese verlassenen Fabrikhallen aussah, in denen am Ende von Actionfilmen immer das letzte große Feuergefecht stattfand. Solche Filme hatte Luke sich mit Rolf vor tausend Jahren gern angeschaut, damals, als er noch ein echtes Kind gewesen war. Erhellt wurde der Raum von Leuchtstoffröhren, die eine gespenstische Unterwasserstimmung erzeugten. Das sie schützende Drahtgitter warf Schatten auf den Boden; die langen, schmalen Fenster an den Wänden waren mit einem dickeren Drahtgitter verkleidet. Es gab keine Betten, nur nackte Matratzen, die teilweise in den Mittelgang geschoben waren. Einige waren umgedreht, eine lehnte schief an den nackten Betonsteinen der Wand. Die war mit gelbem Zeug befleckt, vermutlich von Erbrochenem.
An einer Wand, auf der in Schablonenschrift das Motto IHR ALLE SEID RETTER! stand, lief eine Rinne entlang, durch die Wasser floss. Darüber hockte ein Mädchen, nackt bis auf ein Paar schmutzige Socken. Den Rücken an die Wand gelehnt und die Hände auf die Knie gestützt, entleerte sie den Darm. Es raschelte wieder, weil sich das Telefon am Stoff der Brusttasche rieb, in der es wohl mit Klebeband befestigt war. Vorübergehend wurde der Bildschirm dunkel. Als der Schlitz, durch den die Kamera spähte, sich wieder öffnete, sah man das Mädchen wie betrunken davonwanken, während ihr Kot die Rinne entlanggespült wurde.
Eine Frau in einer braunen Haushälterinnenuniform war damit beschäftigt, mit einem Dampfreiniger weitere Kotze, weiteren Kot, irgendwelches verschüttete Essen und weiß Gott was zu beseitigen. Als sie Maureen sah, winkte sie und sagte etwas, was nicht zu verstehen war, nicht nur weil der Dampfreiniger dröhnte, sondern auch weil der Rübenacker ein Tollhaus aus Stimmen und Schreien war. Ein Mädchen bewegte sich Rad schlagend durch den Mittelgang. Ein Junge in schmutziger Unterhose mit Pickeln im Gesicht und einer verschmierten Brille tief auf der Nase trottete vorüber. Er rief unablässig: »Ja-ja-ja-ja-ja-ja!«, und schlug sich bei jeder betonten Silbe oben auf den Kopf. Luke fiel ein, dass Kalisha von einem Jungen mit Pickeln und Brille erzählt hatte. Das war an seinem ersten Tag im Institut gewesen. Kommt mir so vor, als wär Petey schon ewig weg, dabei war er noch letzte Woche hier, hatte sie gesagt, und das da war offensichtlich Petey. Beziehungsweise das, was von ihm übrig war.
»Littlejohn«, murmelte Luke. »Das war sein Nachname, glaube ich. Pete Littlejohn.«
Niemand hörte ihn. Alle starrten wie hypnotisiert auf den Monitor.
Gegenüber der für Ausscheidungszwecke dienenden Rinne befand sich ein langer Trog auf Stahlstützen. Davor standen zwei Mädchen und ein Junge. Die Mädchen schaufelten sich mit den Händen irgendeinen braunen Glibber in den Mund. Tim, der das ungläubig und angeekelt beobachtete, fühlte sich an Maypo erinnert, einen Haferbrei, den er in seiner Kindheit gegessen hatte. Der Junge beugte sich vornüber und tauchte sein Gesicht mitten in das Zeug. Dabei hatte er die Hände seitlich ausgestreckt und schnippte mit den Fingern. Einige andere Kinder lagen auf den Matratzen und starrten an die Decke. Ihre Gesichter waren von den Schatten des Drahtgitters tätowiert.
Während Maureen auf die Frau mit dem Dampfreiniger zuging, wohl um deren Aufgabe zu übernehmen, verschwand das Bild, und der Bildschirm wurde wieder blau. Alle warteten darauf, dass Maureen auf ihrem Ohrensessel auftauchte, um weitere Erklärungen zu liefern, aber es kam nichts.
»Mein Gott, was war das denn?«, sagte Frank Potter.
»Der hintere Teil vom Hinterbau«, sagte Luke. Er war totenbleich.
»Was für Leute sind das bloß, die Kinder in ein solches…«
»Monster«, sagte Luke. Er stand auf, griff sich mit der Hand an die Stirn und taumelte.
Tim hielt ihn fest. »Meinst du, du kippst gleich um?«
»Nein. Weiß nicht. Ich muss mal raus. Brauch ein bisschen frische Luft. Ich hab Platzangst.«
Tim sah zu Sheriff John hinüber, der nickte. »Gehen Sie mit ihm nach hinten in die Durchfahrt raus. Vielleicht erholt er sich da wieder.«
»Ich komme mit«, sagte Wendy. »Muss sowieso die Tür aufschließen.«
Auf der Tür hinter den Zellen stand in großen weißen Buchstaben: ALARMGESICHERT – NUR IM NOTFALL ÖFFNEN. Wendy nahm ihren Schlüsselbund zur Hand, um den Alarm auszuschalten. Tim drückte die Tür mit einer Hand auf und führte Luke, der jetzt zwar nicht mehr taumelte, aber noch furchtbar bleich war, ins Freie. Was eine posttraumatische Belastungsstörung war, wusste Tim zwar, kannte so etwas bisher aber nur aus dem Fernsehen. Jetzt sah er es an einem Jungen, dem noch kein einziges Barthaar wuchs.
»Tritt bloß nicht auf irgendwelches Zeug, das Annie hier gelagert hat«, sagte Wendy. »Vor allem nicht auf ihre Luftmatratze. Das kann sie gar nicht leiden.«
Luke fragte nicht, was eine Luftmatratze, zwei Rucksäcke, eine dreirädriger Einkaufswagen und ein zusammengerollter Schlafsack in der Durchfahrt zu suchen hatten. Tief ein- und ausatmend ging er langsam auf die Straße zu. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, beugte sich vor und stützte sich auf die Knie.
»Geht’s besser?«, fragte Tim.
»Meine Freunde werden sie rauslassen«, sagte Luke, der immer noch vornübergebeugt dastand.
»Wen denn?«, fragte Wendy. »Diese…« Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Es war auch egal, weil Luke ihre Worte anscheinend gar nicht hörte.
»Ich kann sie zwar nicht sehen, aber ich weiß es trotzdem. Wie das möglich ist, ist mir nicht klar, aber es ist so. Ich glaube, es liegt am Avester. An Avery, meine ich. Kalisha ist bei ihm. Nicky auch. Und George. Mein Gott, sie sind so stark! Zusammen sind sie so stark!«
Luke richtete sich auf und ging weiter. Gerade als er am Ende der Einfahrt stehen blieb, flammten die sechs Straßenlaternen an der Hauptstraße auf. Erstaunt blickte er sich nach Tim und Wendy um. »War ich das?«
»Nein, mein Lieber«, sagte Wendy und lachte auf. »Um die Zeit gehen sie immer an. Komm jetzt lieber wieder rein. Dann hol ich dir eine von den Coladosen, die Sheriff John gebunkert hat.«
Sie berührte ihn an der Schulter. Luke schüttelte sie ab. »Moment!«
Ein Paar überquerte Händchen haltend die sonst menschenleere Straße. Der Mann hatte kurzes blondes Haar. Die Frau trug ein Kleid mit Blumen darauf.
26
Als Nicky die Hände von Kalisha und George losließ, nahm die von den Kindern erzeugte Kraft ab, aber nur ein bisschen. Weil die anderen sich jetzt hinter der Tür von Station A versammelt hatten und der größte Teil der Kraft von ihnen kam.
Das ist wie eine Wippe, dachte Nicky. Während die Denkfähigkeit sinkt, gehen TP und TK in die Höhe. Und die Kids hinter der Tür da können praktisch gar nicht mehr denken.